Kapitel 11 - Papierkram

Jetzt wo ich wieder mit Jessica zusammen bin und ich Melinda öfter sehe, rast die Zeit nur so dahin. Die paar Tage bis zu den Ausgrabungen vergehen wie im Flug. Die anderen scheinen wohl irgendwie verwirrt zu sein. Zuerst hetzt Jessica sie gegen mich auf und plötzlich sind wir wieder zusammen. Die Angelegenheit, wo Melinda in der Zeit bleiben wird, in der wir weg sind, hat sich auch geklärt. Ich bin zwar nicht hundertprozentig zufrieden damit, aber was kann ich sonst tun… Melinda wird bei Ashanti bleiben. Ashanti… hat ein schwieriges Verhältnis zu Kindern. Sie sagt immer, sie hasst Kinder. „Aber nicht eures! Eures ist nicht so ‘ne kleine Nervensäge“, sagt sie immer. Ich hoffe, sie sagt die Wahrheit. Als ich heute das Archäologiezentrum betrete, sehe ich Jessica mit Rick und Jeff sprechen. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust mich dazuzustellen und versuche, mich vorbeizuschleichen. „Chris!“, ruft Jessica. Ich seufze. Verdammt… Ich lächele die drei an und gehe widerwillig zu ihnen. „Hi Rick. Hi Jeff“, murmele ich. Sie begrüßen mich auch.

 

 

Danach bin ich auch schon wieder uninteressant. Jessica und Jeff reden über irgendetwas, das ich einfach nicht verstehe, also starre ich Löcher in die Luft. Rick sagt meinen Namen und ich schaue ihn an. Die anderen sind so in ihr Thema vertieft, dass sie das gar nicht bemerkt haben. Dann zeigt er auf eine Stelle etwas abseits. Ich nicke und wir gehen ein paar Meter weiter. „Verstehst du, worüber Jessica und Jeff da sprechen? Es kam mir vor wie eine Fremdsprache“, frage ich. Rick lacht: „Die beiden spielen Modeberater füreinander. Schlimm, oder?“. Ich nicke. „Ja. Schrecklich“ Dann schweigen wir kurz. „Wie lange seid ihr schon zusammen?“, frage ich. Rick lächelt: „Fast zwei Jahre.“ Ich nicke anerkennend. „Und… wie… ist das so?“, frage ich weiter. Gleich danach hoffe ich, dass Rick mich jetzt für diese Frage nicht für taktlos hält. Stattdessen wird Ricks Lächeln noch breiter. „Noch nie ein schwules Paar vorher gekannt?“, fragt er mich. Ich nicke wieder. „Noch nie. Ich… wollte dir jetzt aber nicht auf die Füße treten. Vergiss die Frage wieder“, sage ich schnell. Er schüttelt den Kopf: „Unsinn. Frag mich was du willst.“ Ich tue so, als ob ich überlegen würde. „Wer ist denn bei euch der… ‚Dominante‘?“, frage ich ihn. Er hebt eine Augenbraue leicht an. „Der Dominante? Ich sehe schon worauf du hinaus willst. Wer ist der Mann und wer die Frau, oder?“, sagt er. Ich schüttele den Kopf. „N-nein… Blödsinn. Ihr seid beide Männer“, entgegne ich. Eigentlich war diese Mann/Frau-Sache tatsächlich meine Frage, aber ich will nicht, dass er wütend auf mich ist. Und wenn man mal genau darüber nachdenkt, ist diese Frage auch tatsächlich ziemlich blöd. Er lächelt wieder. „Richtig. Er ist zwar etwas femininer angehaucht, aber er kann auch ein… ‚Bro‘ sein“, erklärt Rick.

 

 

Wir unterhalten uns noch ein paar Minuten, bis Jessica und Jeff zu uns kommen. „Dann mal an die Arbeit. Seid ihr alle auch motiviert?“, fragt Jessica strahlend. Wir murren alle und Jessica lacht. Danach verabschieden wir uns vorläufig und Rick und Jeff gehen in die Sanitäterkammer.

 

 

„Ich bringe Melinda morgen dann zu Ashanti“, sagt Jessica. „Okay“, nicke ich. „Ich weiß, du bist nicht ganz einverstanden, aber eine Alternative haben wir ja nicht. Es sei denn, dir ist etwas eingefallen. Dann sag es mir“, sagt sie. Ich schüttele leicht mit dem Kopf. „Ashanti wird sich schon gut um Melinda kümmern“, gebe ich zurück. „Ja, keine Sorge. Wir telefonieren mit Melinda“, versichert Jessica.

Wir gehen die Treppen hoch, wo uns Kendra entgegenkommt. „Hi Chris… Hallo Ms. Sankaran“, murmelt Kendra und will an uns vorbeigehen.

 

 

„Moment mal, Katharina!“, sagt Jessica gereizt. „Kendra…“ murmelt Kendra und bleibt stehen. „Chris. Wieso nennt sie dich Chris?“, fragt Jessica entsetzt. „Wo kommen wir denn hin, wenn plötzlich jeder jeden duzt?“ Kendra schaut mich an und ihr Gesicht sieht bedrückt aus. „Tut mir Leid. Ich werde mich bessern“, verspricht Kendra und geht schnell weg. Jessica schüttelt mit dem Kopf. „Diese Kristina war mir von Anfang an nicht sympathisch. Kein Wunder. Das ist ja respektlos wie sie mit den Leuten hier redet“, beschwert sich Jessica. „Lass es gut sein, Jessica“, sage ich ein wenig genervt. „Ich habe sie darum gebeten“, erkläre ich. Sie schnaubt hörbar. „Was. Seid ihr jetzt beste Freunde?“, will sie wissen. Ich schüttele den Kopf. „Macht aber einen anderen Eindruck, Chris“, sagt sie und geht in ihr Büro. Ich runzele die Stirn. So viel Gemecker am Morgen mag ich nicht. Kendra hat großes Pech, dass Jessica sie nicht mag. Wenn Jessica jemanden nicht mag, kann sie alle anderen dazu bringen, dieselbe Haltung anzunehmen. Sie ist ein ziemlich überzeugender Mensch. Allerdings ist das auch ihre Schwäche. Wenn sie es nicht schafft andere zu überzeugen oder es niemanden zu überzeugen gibt, ist sie klein und machtlos. Ich seufze. Sie ist wirklich ein Drache. Ein Drache mit einem weichen Kern. Sie muss diesen Kern nur öfter zeigen.

 

Als ich in meinem Büro sitze und unsere interne Datenbank mit den aktuellsten Fundstücken aktualisiere, muss ich ständig an Melinda denken. Die letzten Tage habe ich bei Jessica verbracht und Melinda immer gesehen, aber trotzdem kommt es mir so vor, als hätte ich immer noch nicht genug Zeit mit ihr verbringen können. Gestern war ich allerdings bei mir zuhause geblieben. Ich hatte Kopfschmerzen und wollte nicht, dass Melinda das Gefühl hat, dass sie mich nervt, wenn sie mit mir redet und ich mich vor lauter Schmerzen kaum konzentrieren kann. Jetzt bereue ich es, weil sie jetzt bestimmt denkt, dass ich sie nicht lieb habe. Ich seufze laut. Irgendwie gibt es immer Schwierigkeiten. Nie läuft alles komplett reibungslos, ständig gibt es Probleme. Warum ist das so? Früher schien mein Leben perfekt gewesen zu sein. Bevor Jessica mich mit Aaron betrogen hat, meine ich. Damals war ich jeden Tag glücklich. Ja… Und zwar so sehr, dass Jessica tatsächlich mal zu mir gesagt hat: „Chris. Hör bitte auf so glücklich zu sein“. Keine Sorge, es war nur ein Scherz von ihr. Sie hat danach gelacht und mir in die Wange gekniffen. Mit einem Mal klopft es an meiner Tür und ich schrecke hoch. „Ja?“, bitte ich die Person herein. Eine Dame betritt mein Büro. Sie kommt näher und bleibt vor meinem Schreibtisch stehen. „Wieso starrst du mich so seltsam an, Chris?“, fragt sie. Ich reiße die Augen auf: „H-heather?! Bist du das?!“

 

 

Sie lacht sich krumm. Ich bin begeistert. Sie sieht so anders aus. „Wieso bist du so herausgeputzt?“, frage ich sie. Sie beruhigt sich wieder. „Ich habe nachher ein Date. Ich bin heute nur kurz hier“, erklärt sie. Ich nicke. „Dann wünsche ich dir viel Spaß. Du siehst toll aus!“, sage ich mit einem Lächeln. „Danke“, entgegnet sie. Dann hält sie mir einen Stapel Papiere hin. Ich runzele die Stirn. „Was ist das?“, frage ich. Heather lächelt: „DLDG.“ Ich schaue verwirrt. „Was?“ Sie lacht. „Hach. Ich liebe es, neuen Kollegen diese Liste in die Hand zu drücken. DLDG steht für ‚Die Liste des Grauens‘. So nennen die Kollegen sie untereinander“, erklärt sie. Ich hebe meine Augenbrauen. „O-okay… Und was ist das für eine Liste?“, frage ich. „Da geht es um dich. Hast du dich noch gar nicht gewundert, dass die Sanitäter über alle hier Bescheid wissen, nur über dich noch nicht?“, fragt sie. Ich schüttele den Kopf. Der Gedanke kam mir ehrlich gesagt nie. „Tja. Weil du diese Liste noch nicht ausgefüllt hast“, sagt sie. Ich schnappe nach Luft. „Liste? Das ist ein Buch!“, rufe ich. Heather lacht schrill. „Viel Spaß. Carlos braucht das noch heute. Er hat vergessen es dir vorher zu geben. Morgen beginnt aber unser Ausflug nach Oasis Springs. Da müssen die Sanitäter bestens über dich Bescheid wissen“, lacht sie weiter. Ich komme ins Schwitzen. „Wie soll ich das alles heute noch schaffen? Ich muss auch noch arbeiten!“, beschwere ich mich. Sie kommt um den Schreibtisch herum und klopft mir auf die Schulter: „Wird schon. Fang‘ lieber gleich an.“ Dann verlässt sie lachend mein Büro. Ich nehme das Lexikon in die Hand und fange an zu lesen. Es werden lauter medizinische Sachen über mich gefragt. Auf der nächsten Seite will man meine Blutgruppe und meine Allergien wissen. Nächste Seite: Stoffe, die bei mir eine unregelmäßige Reaktion hervorgerufen haben. Nächste Seite: Stoffe, die in meiner Familie eine unregelmäßige Reaktion hervorgerufen haben. Mir klappt die Kinnlade herunter. Genau in dem Moment öffnet sich meine Tür und Jessica kommt herein.

 

 

„Schatz? Warum guckst du so ungläubig?“, fragt sie mich, als sie neben mir steht. Ich halte ihr den Roman unter die Nase. Sie lacht. „Oh. DLDG. Hat es dich also auch erwischt“, grinst sie. Ich schlucke und nicke. Dann stehe ich auf. „Wie soll ich das alles heute noch ausfüllen, Jessica?“, jammere ich. Sie kichert. Dann geht sie zur Tür und schließt sie ab. Ich schaue ihr zu. Als sie wieder neben mir steht, tritt sie noch näher an mich heran.

 

 

„Du solltest besser gleich anfangen, oder?“, flüstert sie.