Kapitel 17 - Leise Kritik

Jessica steht wie festgefroren da und starrt mich hilflos an. Instinktiv stelle ich mich schützend vor sie und will meine Mutter beschwichtigen. „Mama, das hab ich dir wohl vergessen zu erzählen…“, beginne ich. „Jessica und ich haben uns versöhnt!“, erkläre ich. Der skeptische Blick meiner Mutter wandert von mir zu Jessica und dann zurück zu mir. „Ist das so…?“, fragt meine Mutter zögerlich. „Wie unerwartet.“, fügt sie hinzu. Ich lächle leicht und stimme ihr zu: „Ja. Für uns kam das auch ziemlich plötzlich.“ Ich bemerke, dass ich noch immer vor Jessica stehe, als ob ich sie vor etwas beschützen müsste. Ich gehe einen Schritt zur Seite und sehe, wie sich die Blicke von Jessica und meiner Mutter treffen. „Meine Reaktion tut mir leid, Jessica. Aber ich denke du verstehst das.“, sagt meine Mutter trocken. Jessica nickt leicht: „N-natürlich…“, murmelt sie.

Dann kommt mein Vater mit Melinda an der Hand zu uns. „Wollen wir nicht reingehen?“, fragt er lächelnd. Drinnen angekommen führen meine Eltern uns ins Wohnzimmer.

Wir setzen uns auf die Couch und ich sehe mich einmal im Raum um. Es sieht alles absolut unverändert aus. Meine Eltern mochten es noch nie, am Haus etwas zu verändern. Wenn ich meine Mutter jetzt fragen würde, warum sie keine neue Couch kauft, würde sie mich empört ansehen und anfangen, mir alle Vorteile dieser Couch aufzuzählen. Bei diesem Gedanken muss ich ein wenig kichern. In der echten Welt starrt mich meine Mutter nun wirklich an: „Alles okay, Chris? Worüber lachst du denn da?“, fragt sie mich. Ich schüttele leicht den Kopf, als ob ich mich selbst aufwecken müsste. „Ach nichts.“, sage ich mit einem Lächeln im Gesicht. Ich sehe kurz aus dem Fenster und sehe Melinda im Garten spielen. Dann wende ich mich wieder meinen Eltern zu. Jessica sitzt still und leise neben mir. So kenne ich sie gar nicht.

 

Mein Vater legt seine Handflächen mit einem Klopfen auf seine Beine und lehnt sich leicht zu uns. „Alsooo… Ihr zwei.“, fängt er an und sieht dabei Jessica ins Gesicht. „Ihr habt euch also versöhnt?“, fährt er fort. Jessica nickt leicht. „Ja, erst vor kurzem.“, sagt sie schnell und leise. Ich überlege was ich tun könnte, damit sie sich wohler fühlt, denn selbst ein Blinder würde an diesem Punkt bemerken, dass das Ganze für sie unangenehm ist. Also rücke ich etwas näher an sie heran, lege meinen Arm um sie und übernehme das Sprechen. „Wir wohnen und arbeiten beide in Willow Creek und so haben wir uns wiedergesehen.“, erkläre ich meinen Eltern. Die beiden hören mir interessiert zu, also versuche ich mehr zu erzählen. „Wir stehen natürlich noch am Anfang, aber wir versuchen es wieder hinzukriegen.“, rede ich weiter. Meine Mutter hebt eine Augenbraue. „Ihr solltet euch nur absolut sicher sein, dass ihr das beide wollt…“, wirft sie ein. Ich runzele die Stirn. Das war ein ganz klarer Seitenhieb auf Jessica. Meine Mutter scheint nicht begeistert von allem zu sein. Natürlich kann ich verstehen, warum nicht, aber trotzdem würde ihre Unterstützung mir weitaus mehr helfen. Kritische Gedanken fliegen mir im Kopf mehr als genug herum. „Das versuchen wir herauszufinden, Mama. Wie schon gesagt, wir haben uns erst vor kurzem versöhnt. Wir brauchen noch ein wenig Zeit.“, erkläre ich. Das, was ich sage, ist zumindest meine Auffassung der Dinge. Ich hoffe, Jessica denkt genauso. Meine Mutter zuckt mit den Schultern und hebt ihre Hände: „Das müsst ihr wissen, wie lange ihr braucht. Ich möchte jedenfalls keine Tränen mehr, das ist alles.“, sagt sie und starrt mir direkt in die Augen. Mir stockt kurz der Atem und ich sehe auf den Boden. Mein Vater legt seine Hand auf die Schulter von meiner Mutter. „Jetzt lassen wir mal dieses deprimierende Gerede. Ich freu mich, dass ihr zwei euch versöhnt habt. Ihr habt immerhin eine Tochter und ich denke, besonders ihr tut ihr dadurch sehr gut.“, bemerkt mein Vater. Meine Mutter schweigt und sieht niemandem ins Gesicht. Ich frage mich, was sie denkt. Aber wie ich sie kenne, ist sie immer noch nicht sehr überzeugt. Mein Blick wandert zu Jessica, die immer noch kein Wort sagt. Sie mag oft einen anderen Eindruck hinterlassen, aber sie hat einen sehr emotionalen Kern. „Ich richte mal etwas zu essen her. Hilfst du mir, Devin?“, sagt meine Mutter zu meinem Vater. Sie steht auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Mein Vater rollt mit den Augen und lacht mir und Jessica zu. Wir lächeln zurück.

Nachdem die beiden weg sind, schaut Jessica mich wütend an. „Chris? Hatte ich dir in Oasis Springs nicht schon gesagt, dass du deinen Eltern von uns erzählen sollst? Das war kein Spaß damals, weißt du?!“, blafft sie mich an. Ich runzele die Stirn. „J-ja, schon…“, stammele ich. Sie schüttelt den Kopf und ihre Haare wackeln genauso energisch mit. „Dann wäre es vielleicht nur halb so unangenehm gewesen, weißt du?“, setzt sie nach. Ich schweige einen Moment. „Tut mir leid. Ich hab es einfach vergessen.“, versuche ich mich zu erklären. Das scheint sie nicht zu überzeugen. Ihr wütender Blick liegt noch immer auf mir.

„Es lief doch ganz gut.“, sage ich und bin selbst kaum von dem, was ich sage, überzeugt. Jessica reißt die Augen auf. „Gut?“, ruft sie. „Gut???“, wiederholt sie. „Wir können froh sein, dass dein Vater die Sache noch gerettet hat. Sonst hätte deine Mutter mir wahrscheinlich noch direkt ins Gesicht gesagt, dass ich mich verziehen soll!“, grölt sie. Ich lege meinen Zeigefinger auf meine Lippen. „Nicht so laut, Jessica.“, flüstere ich. Sie schließt die Augen und dreht sich weg.

 

Ich wende mich auch für einen Moment ab und schaue durch das Fenster nach draußen. Dort kann ich Melinda nicht mehr finden. Wie komisch. Ich stehe auf und öffne die Tür zum Garten. Draußen sehe ich mich ein wenig um, kann Melinda aber nirgendwo entdecken. Vielleicht ist sie ja auf der Toilette. Ich gehe in den Flur und klopfe an die Toilettentür. Keine Antwort.

Langsam bekomme ich Panik und renne zu Jessica.

„Jessica! Hast du Melinda gesehen?!“, rufe ich ihr zu. Sie sieht mich überrascht an. „N-nein, sie war doch draußen im Garten, oder?“, stottert sie. „Nein! Nein, da ist sie nicht!“, brülle ich. Ich laufe in die Küche, um meine Eltern zu fragen. Dann fällt mir ein Stein vom Herzen.

 

„Hey, Dad! Willst du uns etwa auch helfen?“, ruft Melinda glücklich.