Kapitel 18 - Familientreffen: Teil 1

Als mein Herz endlich aufhört wie wild zu pochen, gehe ich mit langsamen Schritten wieder zurück ins Wohnzimmer. Mein Vater sagte, dass das Essen noch eine Weile brauchen wird und wir es uns einfach gemütlich machen sollen bis dahin. Ich setze mich wieder zu Jessica ins Wohnzimmer und nehme die Fernbedienung in die Hand. Jessica scheint immer noch etwas genervt, weil ich meinen Eltern nicht vorher Bescheid gegeben hatte, dass wir beide wieder zusammen sind. Ich lege meinen Arm auf ihre Schulter und sie gibt mir einen genervten Blick. Ich lächele sie an. „Sei nicht mehr sauer.“, bitte ich sie. Sie schnaubt, aber lehnt sich dann doch ein wenig in meine Richtung. Sprechen wollte sie aber wohl noch nicht mit mir. Im Fernsehen läuft irgendeine komische Sendung, deren Sinn ich nicht ganz verstehe. Jessica scheint sich dafür auch nicht sonderlich zu interessieren und überprüft lieber ihre Fingernägel auf Makellosigkeit.

 

 

So sitzen wir noch einige Zeit da, bis schließlich Melinda glücklich ins Wohnzimmer gelaufen kommt. „Mum, Dad, Essen ist fertig!“, ruft sie und grinst dabei übers ganze Gesicht. Wir stehen auf und lassen uns von ihr ins Esszimmer führen. Der Esstisch dort ist bereits gedeckt und das überaus schmackhaft aussehende Essen zwingt einen förmlich, sich zu setzen. Als wir alle sitzen, beginnt Melinda ausgiebig zu erzählen, wie sie beim Zubereiten und Kochen des Essens geholfen hat.

 

 

„Opa hat die Tomaten geschnitten und ich hab den Kopfsalat geschnitten. Und dann hab ich das Essen im Topf umgerührt. Total einfach.“, prahlt sie. Ich habe ein breites Grinsen im Gesicht. „Na, dann kannst du uns zuhause doch auch mal etwas kochen, oder nicht?“, schlage ich vor. Melindas Augen werden noch größer. „Ja! Klar, das würde ich sehr gerne machen!“, strahlt sie mich an. „Ich lerne hier schon mal ein paar Rezepte von Oma.“, erklärt sie uns. Dann lehnt sie sich zu ihrer Oma und flüstert hörbar: „Du musst mir noch ein paar Tricks zeigen, Oma!“ Da fangen wir an, schallend zu lachen.

 

Wir genießen das leckere Essen und mein Vater versucht immer wieder neue Themen anzusprechen. Damit lenkt er gut von der Wut und den Zweifeln meiner Mutter ab. Sie war schon immer eine schwierige Person, weil sie extrem stur ist und stets glaubt, dass ihre Ansichten die einzig wahren sind. Mein Vater hingegen reißt gerne Witze, ist unbeschwerter und nimmt nicht alles so ernst. Ich schätze, die beiden gleichen sich dadurch ein wenig aus.

 

Das bringt mich ins Grübeln. Gleichen Jessica und ich uns nicht genug aus? Sind unsere Persönlichkeiten vielleicht zu unversöhnlich miteinander? Ist deshalb das, was passiert ist, passiert?

 

Während die anderen in ihr Gespräch vertieft sind, schaue ich Jessica unauffällig an. So, als ob die Antworten auf meine Fragen in ihrem Gesicht geschrieben stehen würden.

 

 

Vielleicht habt ihr es schon erraten, aber ich habe meine Antworten durch einen Blick in ihr Gesicht nicht bekommen. Das trotzige Verhalten meiner Mutter macht mir selbst irgendwie auch wieder Zweifel. Ich dachte, ich wäre mir hundertprozentig sicher, dass ich wieder mit Jessica zusammen sein will, aber irgendwie kommen mir diese Bedenken, dass sich die Vergangenheit wiederholen könnte. Ich meine, denken wir mal rein logisch: Es ist schon einmal passiert. Warum sollte es nicht noch einmal passieren können? Was soll sie daran hindern, mich erneut zu betrügen? Ihre Liebe zu mir? Die hatte vor elf Jahren scheinbar auch schon keinen Wert!

 

Ich wende meinen Blick wieder von ihr ab und lausche stumm dem Gelächter der anderen. Nun ja, eigentlich lachen nur wirklich Melinda und mein Vater. Jessica, meine Mutter und ich sitzen stumm da und sind in unsere Gedanken vertieft. Meine Launenhaftigkeit war schon immer ein großes Problem von mir und mal wieder bin ich in Sekundenschnelle von glücklich zu deprimiert gewechselt. Jetzt stochere ich lustlos mit der Gabel in meinem Salat herum. Negative Gedanken zu besiegen ist wohl eine Kunst für sich, hm?

 

Mein Vater sieht mich an. „Chris, du hast doch ein Handy, oder nicht?“, fragt mein Vater mich. Ich hebe eine Augenbraue. „Papa… Wer hat heutzutage kein Handy?“, gebe ich zurück. „Du hast doch auch eins!“, füge ich lachend hinzu. Mein Vater runzelt kurz die Stirn, bevor sich sein Gesicht wieder entspannt. „Du weißt, ich kann mit dem Ding nicht gut umgehen.“, erklärt er lächelnd. Ich habe immer noch ein Lächeln im Gesicht und schüttele langsam meinen Kopf. Er wird es sich nie merken. Dabei habe ich ihm schon hundert mal gezeigt, wie man ein Handy bedient. Mein Vater macht eine ausladende Handbewegung. „Ist doch auch egal jetzt. Ich wollte nur vorschlagen, dass du deinem Bruder und deiner Schwester Bescheid gibst. Vielleicht haben die zwei ja Zeit und wollen auch übers Wochenende bleiben.“, meint mein Vater. Dann zuckt er mit den Schultern. „Es wäre dann so was wie ein echtes Familientreffen, oder nicht?“, fügt er noch leise hinzu. Meine Mutter nickt. „Ja, Chris. Schreib den beiden mal.“, stimmt sie meinem Vater zu. Ich lächle. „Ok. Klar. Ich probier’s mal.“, antworte ich und nehme mein Handy aus der Hosentasche. Dann beginne ich, in unserer Familiengruppe eine Nachricht zu schreiben.

 

 

Nachdem ich auf „senden“ gedrückt habe, lege ich mein Handy wieder auf den Tisch. „Ok. Mal gucken, wann die Antwort kommt.“, sage ich in die Runde. Meine Eltern sehen zufrieden aus. Ich glaube, ich bin nicht das einzige ihrer Kinder, das sich nicht gerade oft blicken lässt. Wren und Vanessa scheinen ihnen auch nur selten einen Besuch abzustatten. Das muss ziemlich enttäuschend sein, denke ich mir. Wenn Melinda mich nicht oft besuchen würde, würde mich das wohl irgendwie verletzen. Ich schüttele leicht den Kopf, ohne dass es jemand merkt. Damit versuche ich, diese negativen Gedanken beiseite zu schieben. Es zählt doch nur das Hier und Jetzt. Und hier und jetzt sind wir zusammen. Wenn meine große Schwester und mein kleiner Bruder noch kommen, dann sind wir komplett. Gerade als ich diesen Gedanken habe, vibriert mein Handy und ich sehe den Namen „Wren Coleman“ auf meinem Display stehen. Mein Bruder hat auf meine Nachricht geantwortet. Ich öffne mein Handy und lese.

 

 

Das ist ganz typisch für Wren. Er ist berühmt für seine Ein-Wort-Antworten. Wren ist drei Jahre jünger als ich und wir beide haben eine Hassliebe zueinander. Manchmal ist es ziemlich schwierig mit ihm auszukommen. Trotzdem ist er mein Bruder und hat daher einen wichtigen Platz in meinem Leben. Ich wende mich an meine Eltern. „Wren schreibt, dass er kommt.“, berichte ich den beiden. Sofort sehe ich, wie sie sich freuen. „Und was hat Vanessa gesagt?“, fragt meine Mutter mich erwartungsvoll. Ich schüttele kurz den Kopf. „Sie hat die Nachricht noch nicht gesehen.“, erkläre ich. Jessica steht auf. „Ich entschuldige mich kurz.“, sagt sie und geht mit strammen Schritten aus dem Esszimmer. Ich sehe ihr nach. Sie geht wohl auf die Toilette. Plötzlich vibriert mein Handy schon wieder. Diesmal steht der Name „Vanessa Coleman“ auf meinem Display. Ich lese ihre Nachricht und schreibe schmunzelnd eine Antwort.

 

 

Ich kam schon immer sehr gut mit ihr zurecht. Sie ist eine sehr angenehme Person und wenn sie lacht, fühle ich mich immer gleich besser. Zurzeit geht es ihr allerdings nicht so gut…

 

Vanessa war zwei Jahre lang mit ihrem Freund zusammen, bis er vor ein paar Wochen ohne einen plausiblen Grund die Beziehung beendet hat und meiner Schwester den Rücken zugekehrt hat. Das hat sie natürlich in ihren Grundfesten erschüttert, weil sie immer sehr von ihm geschwärmt hat. Was für eine Pfeife, sie zu verlassen, ohne einen Beweggrund zu nennen. Ich versuche für sie da zu sein, aber selbst wenn ich mit ihr rede, habe ich immer das Gefühl, als wäre sie unerreichbar weit weg von mir.

 

Ich erzähle meinen Eltern, dass auch Vanessa kommen wird und die Freude in ihren Gesichtern ist mehr als sichtbar. Mein Vater grinst mich an. „Alle Kinder wieder im Haus, also das müssen wir dokumentieren oder so. Ihr lasst euch ja sonst nicht blicken.“, scherzt er. Ich muss lachen. „Das muss sich ändern, du hast recht.“, pflichte ich ihm bei. Dann bemerke ich, dass Jessica noch immer nicht zurück ist. Ich möchte keine Klette sein, aber irgendwie verunsichert mich das. Wahrscheinlich ist das noch der Restschock, als ich gerade dachte, Melinda wäre verschwunden. Ich stehe auf und verlasse das Esszimmer. Dann gehe ich zur Toilettentür und klopfe an.

 

 

„Jessica? Bist du da drinnen?“, frage ich vorsichtig. Ich vernehme ein leises Schluchzen von drinnen. Kurz darauf höre ich Jessicas Stimme: „Ja.“. Ihre Stimme klingt seltsam angeschlagen, als ob sie geweint hätte. „W-was ist los?“, frage ich nervös. „Alles okay bei dir?“. Sie antwortet mir nicht. „Jessica?“. Ich werde ungeduldig vor lauter Besorgnis. Gerade als ich wieder klopfen will, höre ich, wie die Tür aufgesperrt wird. Dann öffnet Jessica langsam die Tür und wir stehen uns gegenüber. Ich sehe ihr ins Gesicht und sehe, wie rot ihre Augenlider sind. „Jessica?! Was ist passiert? Hast du geweint?“. Ich trete näher an sie heran und greife sanft ihre Arme mit meinen Händen. „Hab ich da drinnen irgendetwas falsches gesagt? Ich hab’s gar nicht gemerkt, tut mir leid!“, überschlagen sich meine Worte. Ich sehe ihr tief in die Augen. Sie scheint zu erkennen, wie besorgt ich bin und schüttelt mit dem Kopf. „Nein, nein. Überhaupt nicht.“, will sie mich beruhigen. „Es ist alles okay. Ich weiß auch nicht, was das gerade war.“, will sie mir weismachen. Ich nehme meine Hände noch immer nicht von ihr weg. „Jessica… Ist das dein ernst? Irgendetwas muss dich doch bedrücken.“, entgegne ich ihrem Versuch, mir etwas vorzumachen. Sie wird plötzlich sehr defensiv und löst meine Hände von ihren Oberarmen. „Ich sage doch, es ist alles okay. Mir geht’s gut. Mach dir keine Gedanken.“, wiederholt sie sich. Ich sehe sie bekümmert an, doch sie schweigt nur, lässt mich stehen und geht zurück ins Esszimmer. Ein lauter Seufzer entweicht mir.

 

 

Bitte… keine Geheimnisse mehr, Jessica.