Kapitel 20 - Retter in der Not

 

In dieser Nacht liege ich sehr unruhig im Bett. Eine dicke Decke liegt auf mir und Jessica und doch friere ich bis auf die Knochen. Höchstwahrscheinlich werde ich bloß etwas krank, denke ich mir. Ab und zu döse ich weg, aber wache schon nach spätestens einer Stunde wieder auf. Der Regen draußen ist immer heftiger geworden und die Tropfen prasseln ans Fenster. Ich höre Jessica schnaufen, sie hatte wohl keine Probleme mit dem Einschlafen. Von ihr geht eine Wärme aus, die mich förmlich anzieht. Aber irgendwie kann ich mich nicht einmal mehr wirklich bewegen. So ein seltsames Gefühl hatte ich noch nie. Ich fühle mich so unwohl, als wäre noch jemand im Zimmer und immer wieder wandert mein Blick durch den Raum. Selbstverständlich ist niemand dort, wer auch? Das letzte Mal, als ich auf die Uhr gesehen habe, war es fast zwei Uhr morgens. Danach muss ich wohl eingeschlafen sein.

 

 

In dieser Nacht habe ich nicht geträumt. Diese Nacht fühlte sich ungewohnt leer an.

 

 

Am nächsten Morgen weckt mich die Kälte auf. Ich verziehe das Gesicht und sehe zum Fenster. Dann schüttele ich Jessica leicht, um sie aufzuwecken. „Was willst du?“, murrt sie mich an und dreht sich auf die andere Seite. „Sag mal, hast du in der Nacht das Fenster geöffnet? Willst du vielleicht, dass wir erfrieren?“, meckere ich sie an. Sie dreht sich wieder zu mir rüber. „Du gibst mir die Schuld? Ich habe das Fenster nicht angerührt! Wenn du mal wieder zu senil bist, um es vor dem Schlafen gehen zu schließen, ist das wohl deine Schuld, oder?“, keift sie zurück. Ich runzele die Stirn. „Jessica, ich hab das Fenster gestern hundertprozentig geschlossen“, versichere ich ihr. „Denkst du ich lege mich schlafen wenn das Fenster sperrangelweit offen steht und es draußen fast Minusgrade hat?“, füge ich noch energisch hinzu. Sie gibt mir einen genervten Blick. „Scheinbar schon oder wieso ist es jetzt offen? Und es wird wohl kaum jemand einfach so in unser Schlafzimmer gekommen sein, oder?!“, gibt sie zurück. Mir reicht’s jedenfalls jetzt. Ich stehe auf und schließe das Fenster mit einem lauten Krachen. Jetzt ist mir die Lust auf‘s im Bett liegen vollends vergangen und ich gehe in meinen Schlafklamotten die Treppen zur Küche hinunter.

 

 

Noch während ich die Treppen hinunter gehe, höre ich meine Mutter in der Küche aufgebracht auf meinen Vater einreden. „Devin, tu doch etwas!“, ruft sie. „Ich bin dabei!“, höre ich seine Stimme zurückrufen. Ich biege in die Küche ein und sehe sofort, woher die Aufregung rührt.

 

 

„Devin, wie konnte das passieren?!“, schreit meine Mutter durch den Raum. „Sowas hatten wir noch nie!“, fügt sie etwas überdramatisch hinzu. Ich eile zu ihnen und nehme meinem Vater die Rohrzange aus der Hand. Während ich vergeblich versuche den Wasserfluss zu stoppen, erzählt meine Mutter wie es dazu gekommen ist. „Kaum habe ich heute das Wasser aufgedreht, da spritzte es auch schon in alle Richtungen heraus! Wie kann das denn bloß passiert sein? Gestern Abend, bevor ich dir den Müll zum Wegwerfen gegeben habe, hat alles noch blendend funktioniert!“, erklärt sie uns hysterisch. Ich höre nur mit einem Ohr zu, weil das Wasser mir ins Gesicht spritzt und mein Aggressionslevel stetig mitsteigt. Schließlich gebe ich auf und trete einen Schritt zurück. „Nein, damit wird es wohl nicht klappen“, flüstere ich. Ich lege die Rohrzange auf den Tisch. Dann wende ich mich an meine Eltern: „Ich guck mal, ob wir was anderes da haben.“ Meine Eltern sehen mir nach, wie ich aus der Küche in Richtung Abstellkammer laufe. Kaum habe ich den Raum verlassen, da klingelt es an der Haustür. Ich verziehe das Gesicht: „Wer ist das denn jetzt?“. An der Haustür angekommen, reiße ich sie auf. Mir steht ein Mann gegenüber, den ich zuvor noch nie gesehen habe.

 

 

Zunächst steht er nur da und starrt mich an. Ich starre zurück. So stehen wir einen Moment da, bevor ich das Wort ergreife. „Hallo… Kann man helfen?“, frage ich.

 

 

Er antwortet mir nicht. Sein Blick ist hypnotisierend und es fühlt sich so an, als würden seine eisblauen Augen mir direkt in die Seele blicken.

 

 

Mir wird sein Blick unangenehm und ich schaue kurz weg.

 

 

Dann öffnet er endlich den Mund. „Verzeihung für die Störung“, sagt er mit einer Ruhe, die einen Menschen in Trance versetzen könnte.

 

 

„Schon gut…“, murmele ich. „Was brauchten Sie denn?“, spreche ich kaum hörbar. Der Fremde blinzelt noch zweimal, ehe er sich umdreht und auf ein Auto an der Straße zeigt. „Mein Auto ist stehen geblieben und mein Handy hat keinen Empfang“, beginnt er zu erzählen, während er immer noch einen gruseligen Augenkontakt aufrecht erhält. „Ich hatte gehofft, Sie würden mir erlauben, Ihr Telefon zu verwenden“, fügt er in seiner monotonen Stimme hinzu. Ich zögere kurz. Was für ein seltsamer Typ. Seine Stimmlage ist immer konstant und sein ganzes Auftreten macht mir irgendwie Gänsehaut. Ich nicke langsam. „Selbstverständlich. Kommen Sie doch herein…“, sage ich und deute in Richtung der Tür. „Danke“, erwidert er. „Ich heiße Austin“, stellt er sich vor, bevor er an mir vorbei geht und das Haus betritt. Ich folge ihm sofort. „Ich bin Chris“. Ich schätze der Anstand gebietet es, sich ebenfalls jemandem vorzustellen. Wir stehen im Flur und gerade als ich ihn zum Telefon führen will, höre ich Wren aus der Küche brüllen: „Was ist bloß mit diesem Ding los? Als ob es verhext wäre!“. Oh je, den Wasserhahn hatte ich total vergessen! Es klingt nicht so, als würde Wren damit besser zurechtkommen als ich oder mein Vater. Austin dreht seinen Kopf in Richtung der Küche. Dann schaut er mich wieder mit seinen seelendurchdringenden Augen an. „Gibt es ein Problem?“, fragt er dann. Ich halte es nicht aus und streiche mir mit der Hand über meinen Arm, um die Gänsehaut zu beruhigen. „E-ein kleines, ja“, stottere ich.

 

 

„Vielleicht kann ich helfen?“, bietet er an.

 

Ich schweige für einen Moment. „Ä-ähm. Ich weiß nicht, ob Sie da viel machen könnten...“, versuche ich abzulehnen. Ich will einfach nur, dass er möglichst schnell wieder geht. „Ich kenne mich mit kaputten Rohren gut aus“, sagt er ruhig. Okay, meine Gänsehaut wird mir gleich die Haare auf den Armen ausreißen. Ich hatte nicht mal erwähnt, dass es ein Problem mit den Wasserrohren gibt. „Okay..., wenn Sie denken, dass Sie helfen können, wäre ich natürlich dankbar“, stimme ich widerwillig zu. Er sagt nichts und lässt sich von mir in die Küche führen.

 

 

Dort angekommen bemerken alle gleich den Besucher. Ich versuche zu erklären.

 

 

„Ähm… Der Herr hat gerade geklingelt. Sein Auto ist vor unserem Haus stehen geblieben. Er würde gern das Telefon benutzen... Achja, und er hat angeboten, sich den Wasserhahn mal anzusehen. Er kennt sich wohl damit aus“, erzähle ich meiner Familie als Kurzfassung der Situation. Niemand gibt einen Ton von sich. Wahrscheinlich bemerken sie gerade auch seine komischen Blicke. Austin wartet nicht auf eine Antwort von irgendwem. Er schnappt sich die Rohrzange und fängt an, am Wasserhahn rumzuwerkeln.

 

 

Wie ein Haufen Schaulustiger versammeln wir uns hinter ihm und sehen gespannt zu.

 

 

Und… in weniger als einer Minute, sieht der Wasserhahn wie neu aus. Kein Wasser spritzt mehr quer durch den Raum, es herrscht absolute Ruhe. Austin dreht sich zu uns um. „Das müsste halten. Aber wenn Sie mir nicht vertrauen, sollten Sie einen richtigen Experten heranziehen“, sagt er mit seiner beruhigenden, aber eintönigen Stimme. Meine Mutter macht große Augen. „Oh! Gott segne Sie, werter Herr. Ich dachte schon, dieser Wasserhahn würde nie wieder aufhören das Wasser durch die Küche zu katapultieren!“, ruft sie begeistert. Austins Gesicht ist absolut neutral, ich sehe kein Lächeln und auch sonst keine Reaktion, die seine Gefühlslage widerspiegeln könnte. Was für ein seltsamer Mensch. Man würde meinen, er würde sich auch freuen und zumindest etwas lächeln. „Ich hole Ihnen sofort das Telefon her, warten Sie!“, ruft meine Mutter und läuft los. Mein Vater, Wren und ich werfen uns uneinige Blicke zu. Austin starrt uns nur stumm an. Dann setzt er an, etwas zu sagen: „Nochmals Entschuldigung, dass ich Sie stören musste.“ Mein Vater wedelt hastig mit den Händen hin und her. „Ach wo! Sie sind unser Retter in der Not!“, gibt er mit einem breiten Lächeln zurück. Natürlich zuckt Austin nicht mal mit den Wimpern. Als ob er ein Roboter oder so wäre. Meine Mutter kommt mit großen Schritten zurück in die Küche gerannt. Dann hält sie Austin das Telefon hin. „Bitte sehr, werter Herr“, sagt meine Mutter mit einem dankbaren Lächeln im Gesicht. Austin nimmt das Telefon und starrt meiner Mutter direkt in die Augen: „Danke. Einfach nur Austin.“ Dann wählt er eine Nummer und hält sich den Hörer ans Ohr. Meine Mutter scheucht uns aus der Küche. „Man hört bei fremden Gesprächen nicht zu, habe ich euch denn gar nicht erzogen?“, zischt sie uns an. Wenig später stehen wir im Wohnzimmer und meine Mutter ergreift das Wort.

 

 

„Ich sage, wir laden den freundlichen Herren zum Essen ein!“, beschließt meine Mutter. „Ohne ihn würden wir mächtig in der Klemme stecken!“, belehrt sie uns, als ob wir das nicht selbst wüssten. „Mama, der Mann muss heute sicher noch woanders hin. Lass ihn gehen“, versuche ich ihr diese Idee auszutreiben. Mein Vater sieht mich etwas enttäuscht an: „Chris, so kenne ich dich gar nicht. Man muss sich doch angemessen bei jemandem bedanken“, sagt er zu mir. Wren zuckt mit den Schultern. „Der Kerl ist komisch. Aber mir ist es egal, ob er bleibt“, steuert er zu unserer Unterhaltung bei. Meine Mutter klopft mit der Faust entschieden auf ihre Handfläche. „Dann ist es beschlossen. Ich frage ihn, ob er zum Essen bleibt!“.

 

 

 

Ich schätze, ein Essen geht in Ordnung…