Kapitel 27 - Eine unwahrscheinliche Allianz

Carlos war gerade dabei die Einführungsrede zu halten, als wir ins Foyer zurückkehrten. Auf einem Hocker neben ihm sitzt Dr. Clarke, den wir heute verabschieden. Carlos ließ kein Lob unausgesprochen, jede noch so kleine Errungenschaft von Dr. Clarke hebt er hervor. Während ich zuhöre, wird mir klar, dass wohl nicht nur ich mich heute bei unserem scheidenden Professor einschleimen wollte. Nach der ganzen Sache mit Austin weiß ich allerdings gar nicht, ob ich dafür noch die Nerven habe. Austin ist ein über hundert Jahre alter, ehemaliger Diener eines Barons, der in einem Seelenstein eingesperrt ist. Und obendrauf können einige Leute in seiner „Welt“ – was auch immer das wieder bedeuten soll – anscheinend zaubern. Diese Geschichte könnte ich Melinda buchstäblich zum Einschlafen vorlesen. Jessica hat sich zwar mal wieder danebenbenommen, wie so oft, aber ich kann es ihr nicht übelnehmen, Austin nicht zu glauben. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dass er „Zauberkräfte“ besitzt und sein Gesicht von jetzt auf gleich sich in das des Teufels verwandeln kann, dann würde ich ihm wohl auch kaum glauben. Ich werfe erneut einen Blick zu Austin hinüber. Er hört Carlos aufmerksam zu. Sein Gesichtsausdruck erlaubt es nicht, seine aktuelle Stimmung abzulesen.

 

Er hat diese neutrale Miene so gut drauf, dass ich mich frage, ob das wohl auch einer seiner Zauber ist. Apropos: Wenn er zaubern kann, wieso zaubert er seinen Baron nicht einfach aus diesem Stein heraus? Außerdem verstehe ich noch immer nicht, was diese akute Gefahr ist, vor der Austin uns warnt. Ja, der Stein ist scheinbar sehr mächtig, aber gibt es denn außer Austin wirklich irgendjemanden, der nach ihm sucht? Und selbst wenn sie ihn finden, was wollen sie schon damit tun? Die Welt zerstören? Das ist doch Quatsch. Gar nichts macht mehr Sinn. Austin weiß viel mehr, als er uns erzählt hat. Ich muss mehr erfahren, oder ich werde durchdrehen. Auch über ihn selbst wissen wir einfach gar nichts! Was ist dieser Ort, den er seine „Welt“ nennt? Es muss wirklich weit weg sein, denn ich habe noch nie von einem „Schloss Dunkelbrunn“ oder einer Stadt namens „Durande“ gehört. Der Seufzer, den ich ausstoße, wird von Carlos am Mikrofon übertönt. All dieses Wirrwarr, nur weil Jessica diesen dummen Seelenstein geklaut hat. Sie ist die letzte, die auf irgendjemanden sauer sein darf. Sie hat uns das eingebrockt!

 

Scheinbar ist Carlos endlich am Ende seiner Schleimspur angekommen, denn ich werde von lautem Klatschen aus meinen Gedanken gerissen. Dr. Clarke erhebt sich und stellt sich ans Mikrofon.

 

„Ich glaube nicht, dass ich all dieses Lob verdient habe, aber trotzdem vielen Dank, Carlos“, lächelt Dr. Clarke. Im Publikum ertönt ein kurzes, höfliches Lachen. Es fühlt sich an, als wären Austin, Jessica und ich die einzigen, die jetzt gerade nicht einmal dafür im Stande sind. Dr. Clarke war ein überaus guter Redner. Ich hatte erwartet, dass er uns mit langwierigen, monotonen Geschichten langweilen würde, aber schon nach kurzer Zeit war ich wie gefesselt und lauschte aufmerksam seinen Erzählungen. Was für ein Leben er gelebt hat! Mit jungen Jahren fand er bereits seinen Weg in die Archäologie und machte sich rasant einen Namen. Es gibt kaum eine große archäologische Stätte, bei deren Erforschung er nicht in irgendeiner Art und Weise mitgewirkt hat. Unweigerlich zog ich Vergleiche zu mir selbst. Ich hatte eine kleine Identitätskrise nach dem Erlangen meiner Hochschulreife. So viele Wege, so viele Themengebiete, die mein Interesse weckten. Schlussendlich hatte ich mich für die Altertumsforschung entschieden – und nach viel Schweiß und Tränen – stehe ich nun da, wo ich stehe. Doch bei weitem hatte ich nicht so viele außergewöhnliche Erfahrungen gesammelt, wie Dr. Clarke.

 

„Ich denke über die vielen Wege nach, die wir in unserem edlen Streben beschritten haben. Archäologie ist, wie Sie alle wissen, weit mehr als nur das Durchsieben des Sandes der Zeit. Es ist die glühende Suche nach Verständnis, nach Verbindung, nach dem Ausgraben der stillen Geschichten derer, die vor uns gegangen sind.

 

In diesem Streben haben wir mehr als nur Ausgrabungen und staubige Artefakte geteilt. Wir haben Gelächter und Frustration geteilt, wir haben Triumphe und Enttäuschungen geteilt, wir haben unzählige Tassen des schlechtesten Kaffees, den die Menschheit kennt, geteilt. Wir haben den unglaublichen Nervenkitzel der Entdeckung geteilt, die Gänsehaut, wenn unsere Hände über ein Relikt, ein seit Tausenden von Jahren vergrabenes Artefakt gestreift haben.“

 

Dr. Clarkes Worte schweben sanft durch den stillen Raum. Es fühlt sich so an, als würde niemand im Raum mehr atmen. Nur noch zuhören.

 

„Ich werde heute Abend an ein Sprichwort der Alten erinnert: ‚Wir sind nur Zwerge, die auf den Schultern von Giganten stehen‘. Jede Scherbe, die wir ausgraben, jeder Stein, den wir akribisch wegmeißeln, dient dazu, unsere gemeinsame Geschichte besser zu verstehen, um weiter zu sehen, so wie es die Alten taten.

 

In meiner Laufbahn hatte ich das seltene Privileg, mitzuerleben, wie Geschichte neu geschrieben wurde, manchmal durch meine eigene Hand, aber oft auch durch die von Ihnen, die heute hier stehen. Und seien wir ehrlich, es war nicht immer eine sanfte Fahrt. Wir haben so manche zermürbende Saison unter der unbarmherzigen Sonne überstanden, Sandstürme durchlitten, die jede Illusion von Komfort zunichte machten, die brutale Kälte einer Wüstennacht ertragen, die unsere Hoffnungen erstarren ließ, und wofür das alles? Für die Chance, die Vergangenheit zu berühren, alten Geschichten wieder Leben einzuhauchen, denen eine Stimme zu geben, die durch den Lauf der Zeit zum Schweigen gebracht wurden.

 

Sie, meine Kollegen, meine Studenten, meine Freunde, sind es, die mich inspirieren. Ihre Hartnäckigkeit, Ihre unstillbare Neugier, Ihre feurige Leidenschaft - all das treibt dieses Fachgebiet voran, und ich bin stolz darauf, ein Teil dieses Erbes gewesen zu sein.

 

Jetzt, da ich diese großartige Institution verlasse und in die aufregende Welt des Ruhestands eintauche - ja, der Ruhestand, diese Lebensphase, die uns arbeitswütigen Archäologen so fremd ist - nehme ich nicht Abschied. Ich schlage einfach das nächste Kapitel auf und übergebe das Erbe der Archäologie in die fähigen Hände derer, die nach mir kommen.

 

Und so erhebe ich mein Glas, während ich mich darauf vorbereite, meine Kelle und meinen Pinsel gegen eine Angelrute und einen Kriminalroman einzutauschen. Auf die Archäologie, auf das Abenteuer, auf die Entdeckung. Mögen Ihre Pfade aufregend sein, Ihre Funde erhellend und Ihr Geist unerschrocken.

 

Auf das nächste Kapitel... Prost!“

 

Und damit hebt Dr. Clarke seinen Sekt in die Höhe und schallender Applaus bricht im Foyer des Archäologiezentrums aus. Ich klatsche so laut, wie meine Hände es erlauben. Der tosende Applaus kommt selbst dann nicht zum Erliegen, als Dr. Clarke mit seiner Hand eine abbremsende Bewegung macht. Seine Rede hatte mich sehr tief berührt und all die Zweifel, die ich schon lange für begraben hielt, ein für alle Mal aus der Welt verbannt. Worte sind wahrlich mächtig.

 

Nachdem wir einige Gläser Sekt getrunken hatten und die Abschiedsfeier langsam sich ihrem Ende neigte, gingen wir drei noch einmal kurz in die Sanitäterkammer, um einige Worte zu wechseln.

„Austin, lass uns noch etwas mehr im Detail über den Baron sprechen. Ich habe noch viele ungeklärte Fragen“, sage ich. Austin nickt.

„Ich weiß. Und ich werde euch Rede und Antwort stehen“, erwidert Austin. „Doch nicht hier.“

Ich nicke. Das wäre wohl kaum eine gute Idee, jetzt wo die Abschiedsfeier vorbei ist und es keine Hintergrundmusik mehr gibt, die unsere seltsamen Gespräche überschallt. Ich lure durch die Tür hinüber ins Foyer, wo einige meiner Kollegen Carlos beim Abbau der Dekoration helfen.

„Komm am besten morgen zu uns nach Hause“, schlage ich vor. „Dort können wir alles in Ruhe besprechen.“

Jessica rollt mit den Augen und schüttelt den Kopf. Austin ignoriert sie gekonnt und nickt mir zu. „In Ordnung.“

Er klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter: „Gute Nacht.“ Ich erwidere dasselbe. Nachdem er verschwunden ist, schlendern Jessica und ich zum Auto und machen uns auch auf den Heimweg.

 

Für den nächsten Abend hatten wir uns mit Austin verabredet. Um Punkt 20:00 Uhr klingelt es an unserer Tür. Jessica rollt mit den Augen. „Chris. Nur dass das klar ist: Er wird sofort wieder gehen. Du wirst ihm NICHT ständig noch Kaffee oder Kuchen oder sonst was anbieten. Er wird seine Märchen erzählen und unser Haus sofort wieder verlassen!“. Ich seufze.

„Jessica, bitte. Wir hatten darüber geredet. Lass ihn einfach in Ruhe.“

Ich gehe zur Tür und öffne sie. Vor mir steht Austin mit einem Kuchen in der Hand.

Als er mich sieht, formt sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. „Guten Abend“, höre ich ihn sagen.

Ich lächle zurück: „Hey, willkommen!“. Mit einem Blick auf den Kuchen füge ich „Oh, der sieht köstlich aus! Wie nett von dir“, hinzu. Bevor ich mich umdrehen kann, fällt mir noch etwas auf. „H-hey, die Schramme in deinem Gesicht ist weg!“

Austin schmunzelt: „Magie ist überaus nützlich, weißt du.“

Ohne weitere Fragen zu stellen, führe ich ihn ins Wohnzimmer. Jessica ringt sich zu einem kurzen, falschen Lächeln, als sie ihn sieht: „Hallo“. Austin legt den Kuchen auf dem Tisch ab.

„Hoffentlich schmeckt er euch“, sagt er mit einem leichten Lächeln.

„Wie aufmerksam von dir“, gähnt Jessica. Dann steht sie von der Couch auf. „Was darf ich dir zum Trinken bringen?“, fragt sie.

„Ein Kaffee wäre überaus großzügig.“

Wortlos marschiert Jessica in die Küche. Austin und ich nehmen Platz und legen die Arme in den Schoß, als würden wir einen geheimen Plan besprechen.

„Also…“, fange ich an. „Du erzählst uns alles was du weißt, oder? Keine Geheimnisse.“

Austin nickt entschieden. „Ja. Versprochen. Ich brauche immerhin eure Hilfe.“

„Austin, eine Sache würde mich interessieren. Der Baron… ist er eigentlich wirklich ‚physisch‘ in diesem Stein drinnen? Oder wie kann ich mir das vorstellen?“, frage ich.

Austin schüttelt mit dem Kopf. „So weit ich weiß, ist nur noch seine Seele und seine magische Essenz in diesem Stein gefangen. Sein Körper ist nicht mehr hier“, erklärt Austin.

Ich tue so, als wäre das das normalste, was jemals jemand sagen könnte und nicke ganz unbeeindruckt. „Verstehe. Er kann also niemals zurückkehren?“

Austin wendet betroffen die Augen ab. Damit habe ich meine Antwort erhalten.

„Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du uns gefunden, weil wir den Stein ausgegraben haben und du ihn dann gespürt hast, oder? Was hast du denn davor getan? Einfach nur gewartet?“, will ich wissen.

„Ich habe in Durande versucht, meine Augen und Ohren offen zu halten und etwas über den Mörder des Barons herauszufinden. Aber leider sind die meisten Menschen nach inzwischen über 100 Jahren schon verstorben und es gibt kaum noch jemanden, der sich an den Baron erinnern kann. Deshalb kam ich in meinen Ermittlungen kaum weiter. Bis ich eines Tages die Präsenz des Barons wie Feuer in meinen Venen spürte. Das war der Tag, an dem ihr seinen Seelenstein ausgegraben habt. Sofort habe ich mich auf den Weg in Richtung dieses brennenden Gefühls begeben… und fand euch bei deinen Eltern. Ich brauchte einen Vorwand, um euch aus der Nähe beobachten zu können, daher habe ich meinem Auto eine Panne herbeigezaubert“, rekapituliert Austin.

„Aha!“, mache ich. „Ich wusste, dass das mit deiner Autopanne irgendwie komisch war.“

Austin lächelt mich an. „Mir ist nichts besseres eingefallen.“

Ich lächle zurück. „Aber… Was wolltest du denn tun, nachdem du uns ‚näher beobachtet‘ hast? Du kannst den Stein nicht einmal anfassen“, erinnere ich ihn.

„Korrekt. Aber ich musste herausfinden, was für Menschen ihr seid. Und für wen ihr arbeitet. Ob ihr vielleicht verantwortlich für das Schicksal des Barons wart. Daher war ich ein wenig reserviert, als ich bei euch zu Besuch war.“

Ich lache „Reserviert? Wir dachten, du wärst ein Roboter. Deine Emotionslosigkeit war gruselig.“

Austin muss lachen. „Ich war nervös… Vielleicht hättet ihr mich ja auch in den Stein sperren wollen…“

In diesem Moment kommt Jessica mit drei Kaffeetassen in der Hand zurück. Sie beugt sich zu Austin hinunter, um ihm eine der Tassen zu geben… und mit einem großen Aufschrei, fällt ihr die Tasse samt kochend heißem Kaffee aus der Hand und landet direkt auf Austins Hemd.

Jessica stößt einen schrillen Schrei aus, während Austin vor Schmerzen keuchend aufspringt

Ich katapultiere mich ebenfalls von der Couch und werfe suchende Blicke durch den Raum.

Als ich nichts entdecken kann, das Austin helfen würde, wende ich mich an Jessica: „Hol einen kalten Waschlappen!“

Jessica rennt los und ich begleite Austin ins Badezimmer, wo wir versuchen kaltes Wasser auf die verbrannten Stellen zu applizieren.

„Mist, wie sehr tut es weh? Brauchst du einen Arzt?“, frage ich ihn hektisch. Er winkt ab.

„Nein, nein. Schon gut. Es geht wieder.“

Jessica kommt mit einem triefend nassen Waschlappen ins Bad. „Hier!“, ruft sie und hält ihm den Lappen hin.

„Danke“, sagt Austin und hält sich den Lappen auf die verbrannte Haut.

Während er sich versorgt, stehen wir wortlos daneben. Ich fasse es nicht, dass Jessica das getan hat. Ich schnappe sie mir am Arm und ziehe sie zurück ins Wohnzimmer.

„Sag mal, bist du eigentlich komplett wahnsinnig geworden? Bist du gemeingefährlich?“, keife ich sie an.

Sie legt erschrocken die Hand auf die Brust. „Das war keine Absicht! Ich kann ihn vielleicht nicht ausstehen, aber ich habe ihn NICHT absichtlich verbrannt!“, beteuert sie. „Das war ein Unfall!“

Ich schüttle mit dem Kopf. „Entschuldig‘ dich bei ihm.“

Jessica nickt. „Werde ich.“

Sie geht an mir vorbei und zurück ins Badezimmer. Dann höre ich ihre Stimme.

„Austin, das war wirklich ein Unfall. Es tut mir unglaublich leid. Ehrlich. Wie kann ich es wieder gut machen?“, höre ich ihre Stimme.

„Mach dir keine Gedanken, Jessica. Ich weiß, du wolltest das nicht. Es ist alles gut.“, versichert er. Sie zögert kurz.

„Okay. Nochmals Entschuldigung.“

Dann kommt sie zurück zu mir. „Ich mache noch einen Kaffee. Gib ihm doch Ersatzkleidung“, merkt sie an und geht direkt in die Küche.

Gute Idee. Ich gehe zu Austin ins Badezimmer.

„Alles okay?“

Er hält sich immer noch den Lappen an die Brust, lächelt aber wie eh und je. „Ja, wirklich. Es ist schon wieder vorbei. Ein bisschen heißer Kaffee ist das Geringste unserer Probleme.“

„Komm mit, ich geb‘ dir ein Oberteil“, sage ich und er folgt mir zu meinem Kleiderschrank. Ich öffne den Schrank und suche nach einem Oberteil, das ihm passen könnte. Er ist wesentlich muskulöser als ich, daher würden ihm meine normalen Klamotten vermutlich nicht passen. Ich erinnere mich aber daran, einige alte Hemden zu besitzen, aus der Zeit, als ich noch etwas korpulenter war. Weit hinten im Schrank entdecke ich einige dieser Hemden. Ich nehme den Stapel heraus und lege ihn aufs Bett. „Die sollten dir passen.“

Er nickt und bedankt sich mit einem Lächeln im Gesicht.

Dann verlasse ich das Zimmer, damit er sich in Ruhe umziehen kann.

Als er wieder zurück ist, entschuldigt sich Jessica – zu meiner Freude – erneut bei ihm. Er winkt abermals ab.

Nachdem er Platz genommen hat, legt sich eine Stille über uns. Austin atmet ein und ergreift das Wort: „Ich möchte euch alles erzählen, was ich weiß.

Die letzten 24 Stunden waren so turbulent, dass ich euch alles nur in Häppchen erzählen konnte. Lasst mich die Lücken füllen…“

 

„Damals war ich, wie bereits gesagt, ein Diener des Barons. Das Schloss Dunkelbrunn liegt etwas abgeschieden von der Stadt Durande auf einem Berg. Nicht viele Leute verirrten sich dorthin. Neben einigen weiteren Bediensteten lebten auf dem Schloss sonst nur der Baron Severin von Dunkelbrunn...

... Meredith von Dunkelbrunn, die Frau des Barons...

...und Maximus von Blutstein - ein brillanter Alchemist.

Der Baron selbst entsprang einer wohlhabenden Familie, die schon seit Jahrhunderten im Schloss Dunkelbrunn lebt. Das Familiensiegel zeigt einen Raben auf einem Berg, mit dem Vollmond groß dahinter. Dieses Siegel soll für Macht und Weisheit stehen, hatte mir der Baron mal erklärt. Ich erinnere mich an ein Buch, das seine Abstammung beschreibt“, erzählt Austin. Er macht große Augen. „Man konnte seine Familie Jahrhunderte weit zurückverfolgen! Ritter und Anführer, Gelehrte und Händler. Es gab nichts, dass jemand in seiner Familie nicht schon getan hatte.“

Austin schweigt kurz und seine Augen bewegen sich nur langsam.

„Ich kannte den Baron als unglaublich intelligent und ambitioniert. In seiner Präsenz fühlte man förmlich, wie das Unmögliche möglich wurde. Jedoch… hatte er sich in den Jahren vor seiner Gefangenschaft im Seelenstein verändert“, bemerkt Austin.

Ich blinzle kurz. „Wie meinst du das?“

„Nun…“, beginnt Austin, „Maximus und der Baron arbeiteten vor allem an klassischen alchemistischen Fragestellungen, wie der Transmutation von unedlen Metallen zu Gold. Doch der Baron machte irgendwann eine Kehrtwende und die beiden hörten auf, darüber zu sprechen. Es war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise philosophierten sie ständig über dieses Thema. Auf einmal herrschte Stille und man sah die beiden kaum mehr zusammen.“

„Hm“, macht Jessica. „Wieso will er überhaupt Gold transmutieren? Kann er nicht einfach Gold herbeizaubern?“, fragt sie mit neutraler Miene.

Austin schüttelt den Kopf. „Nein. Herbeigezaubertes Gold ist kein echtes Gold. Es sieht gleich aus, aber in der Sekunde, in der man es berührt, wird man den Unterschied gleich merken.“

„Aha“, sagt sie nicht sonderlich überzeugt.

„Außerdem ist der Einsatz von Magie nur begrenzt möglich. Die Menge an Gold, die man an einem Tag herzaubern könnte, wäre ziemlich mickrig“, fügt Austin hinzu.

Ich zucke mit den Schultern. „Ich verstehe wirklich gar nichts, was dieses Zauberei-Thema angeht.“

Austin lächelt: „Glaub mir – ich auch nicht.“

Jessica ergreift erneut das Wort: „Okay, also dein Baron und Minimus sind an ihrem Vorhaben gescheitert. Vielleicht haben sie deshalb nicht mehr geredet. Der Baron war bestimmt sauer.“

Austin schüttelt schnell den Kopf. „Nein, das war es nicht. Es war mehr so… als ob… hm…“

Er öffnet und schließt den Mund ein paar Mal, als ob er nicht die richtigen Worte finden könnte, um die Dinge in seinem Kopf für uns verständlich zu machen. „Also… Eigentlich war es so, als ob sie etwas geheim halten würden, glaube ich. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll“, gibt er schließlich seine Gedanken an uns weiter.

Jessica sieht unbeeindruckt aus: „Wie kommt man denn auf sowas? Sie waren bestimmt nur enttäuscht, dass sie kein Gold machen konnten.“

Austin seufzte. „Ich kann nicht das Gegenteil beweisen. Auch wenn ich der persönliche Bedienstete des Barons gewesen bin, durfte ich viele Dinge auch nicht wissen“, erklärt Austin.

Ich melde mich zu Wort: „Kannst du uns mehr über Meredith und Maximus erzählen? Wie haben sie eigentlich auf das Verschwinden des Barons reagiert?“.

Er nickt und beginnt sogleich zu erzählen.

„Meredith und der Baron waren schon sehr lange verheiratet. Sie teilte seine Faszination für Alchemie und alles Übernatürliche. Sehr oft war auch sie anwesend, wenn der Baron und Maximus eine ihrer Unterredungen hielten. Im Gegensatz zum Baron war sie allerdings nicht mit Magie begabt.

„Generell hielt sich Meredith eher im Hintergrund. Sie hatte ihre eigenen Diener, daher hatte ich nicht viel mit ihr zu tun. Sie war so ziemlich das genaue Gegenteil von Maximus. Er war ein Exzentriker, forsch und laut. Die meiste Zeit über hielt er sich in der Bibliothek des Schlosses auf, wo er alte alchemistische Skripte auf der Suche nach Hinweisen zu Goldtransmutation wälzte. An manchen Tagen ließ er sich sogar überhaupt nicht blicken. Nur das Licht in seinem Zimmer verriet seine Anwesenheit“, erinnert sich Austin.

 

Er macht eine kurze Pause und nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. In diesem kurzen Moment der Stille wandern meine Gedanken. Alles was Austin bisher erzählt hat, klingt wie ein Märchen. Ein Blick in Jessicas Gesicht sagt mir, dass auch sie vor Skepsis überläuft.

 

Austin legt die Tasse wieder auf dem Tisch ab und fährt fort: „Gut. Dann wisst ihr jetzt grob, wie die allgemeine Situation im Schloss aussah. Kommen wir also zu diesem Tag, der alles verändert hat…

An diesem Tag war für den Abend eine Gala im Festsaal des Schlosses geplant. Es wurden eine Vielzahl an Gästen erwartet: Barone und Grafen, renommierte Alchemisten und Gelehrte. Um ehrlich zu sagen, fand ich diese Gästeliste ein wenig seltsam. Der Baron hatte die Goldtransmutation aufgegeben, aber viele Leute eingeladen, die an diesem Thema Interesse gehabt hätten.

Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren und auch der Baron war durchaus aktiv und packte an, wo immer er konnte. Zumindest war es am Morgen noch so… Am Nachmittag fiel mir auf, dass ich den Baron schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Doch nicht nur ihn. Auch Meredith, die fleißig mitgeholfen hatte, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Maximus hatte ich zwar auch lange nicht mehr gesehen, doch das war bei ihm nicht ungewöhnlich. Wie schon erwähnt, hielt er sich die meiste Zeit in seinem Zimmer oder der Bibliothek auf. Ich ging also auf die Suche nach dem Baron, um zu sehen, ob er mich noch brauchte, ehe ich mich wieder den Vorbereitungen widmen würde.

 

Das Problem war nur…, dass er nicht mehr aufzufinden war. Nirgends. In diesem Moment ahnte ich übles. Einen Ort hatte ich noch nicht aufgesucht: Das Arbeitszimmer des Barons. Ich ging also so schnell es meine wackeligen Beine zuließen dorthin.

Vor der Tür angekommen, klopfte ich, bekam aber keine Antwort. Ich öffnete die Tür… und der Raum war leer“, erzählt Austin uns.

 

„Er war zu diesem Zeitpunkt sicher schon eingesperrt worden…“, grüble ich vor mich hin. „Oder was meinst du?“

Austin gibt mir ein kurzes Nicken: „Ja, das glaube ich auch. Aber in seinem Arbeitszimmer war auch von der Perle keine Spur mehr. Die Baronin war ebenfalls verschwunden und später stellte sich heraus, dass auch Maximus wie vom Erdboden verschluckt war.“

Jessica macht ein verwirrtes Gesicht: „Hä? Wie geht das denn?“

Austin zuckt mit den Schultern und starrt auf den Fußboden: „Ich weiß es nicht. Hundert Jahre lang habe ich versucht herauszufinden, was geschehen ist. Vergebens.“

„Austin… Glaubst du, dass Meredith und Maximus etwas mit dem Verschwinden des Barons zu tun hatten?“, frage ich ihn vorsichtig.

Austin hebt seinen Kopf wieder an und schaut mir ratlos in die Augen. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Die Baronin liebte den Baron wirklich sehr. Und Maximus war zwar exzentrisch, aber nicht bösartig…“, macht Austin deutlich.

Jessica schaltet sich ein: „Hatte denn der Baron irgendwelche Feinde? Ich kenne das aus meinem Leben; hinterlistige Schlangen lauern hinter jeder Ecke.“

Ich werfe ihr einen kurzen, mit Ironie geladenen Blick zu, bevor meine Augen wieder Austin fixieren, der gerade seinen Kopf schüttelt.

„Nicht, dass ich wüsste… Generell war der Baron eher zurückgezogen und hatte nicht viel Kontakt zur Außenwelt. Für die Bewohner der nächstgelegenen Stadt – Durande – war er sogar fast schon ein Mythos.“

Sie schnaubt. „Naja, irgendwer muss ihn ja gekillt haben.“

„Jessica…“, seufze ich.

Sie steht auf und stellt sich vor uns.

„Ich habe mich entschieden“, sagt sie in einem ebenso sicheren Tonfall. „Wir werden dir helfen, dein Mysterium zu lösen…

… und dann verschwindest du endlich aus unserem Leben.“

Austin lässt die Mundwinkel leicht fallen und sein Blick wandert von Jessica zum Fußboden und wieder zurück zu ihr.

„Abgemacht“, stimmt er zu.

„Wunderbar. Zum Glück ist Wochenende. Ich werde Melinda zu deinen Eltern fahren Chris. Und du, Austin, bringst uns nach Schloss Dunkelbrunn.“

Ich reiße die Augen auf: „W-WAS?“

Austins Blick hatte eine Entschlossenheit angenommen, die er heute Abend bisher noch nicht gezeigt hatte.

„In Ordnung, Jessica. Kommt morgen so früh ihr könnt zu mir nach Hause. Von dort aus gehen wir nach Durande und schließlich zum Schloss Dunkelbrunn.“

Ich weiß gar nicht wie mir geschieht, so schnell drehe ich den Kopf zwischen Austin und Jessica hin und her.

„W-wartet mal! N-nach Schloss Dunkelbrunn? Wie soll das gehen? Wo ist das überhaupt? Wie kommt man da hin?!“, überschlagen sich meine verzweifelten Fragen.

Austin steht auf. „Ich verspreche, die Reise wird nicht lange dauern.“

Dann geht er zur Haustür und dreht sich noch einmal zu uns. „Danke für eure Hilfe. Ich weiß es wirklich zu schätzen.“

Jessica nickt ihm still zu und meine Zunge schafft es nicht, ein Wort herauszubringen.

Austin öffnet die Haustür, tritt nach draußen und zieht die Tür hinter sich zu. Zurück bleiben sein Schokokuchen, Jessica und mein verdutztes Ich.

 

Am nächsten Morgen fuhr Jessica Melinda zu meinen Eltern, sodass sie übers Wochenende auf sie aufpassen konnten. Ich starre in den Spiegel und versuche meinem Spiegelbild Mut zu machen. „Es ist doch nur ein verfluchtes Schloss, hab dich nicht so.“

Hmm… Irgendwie funktioniert das Mutmachen nicht wirklich.

Ich höre die Haustüre aufgehen. Jessica ist zurück. Ich laufe ihr entgegen.

 

Sie sieht mich mit einem leichten Grinsen an. „Bereit?“

„Sag mal… Wieso hast du dich eigentlich plötzlich dazu entschieden, ihm zu helfen?“, frage ich neugierig.

Jessicas Lächeln verschwindet. „Hmpf… Anders werden wir diesen Spinner nicht los. Er wird nicht aufhören uns um Hilfe zu bitten. Bringen wir’s also einfach hinter uns und schaffen ihn uns vom Hals. Ich will ihn nicht ständig überall sehen.“

„Verstehe“, gebe ich zurück.

 

Nachdem ich mich umgezogen hatte, machten wir uns auf den Weg zur Adresse, die Austin uns gegeben hatte.

 

„Hier wohnt dieser Verrückte? Würde ich von außen nicht erraten“, stichelt Jessica.

Als ob Austin schon auf uns gewartet hätte, öffnet sich die Tür und er steht vor uns. Er sieht nicht gerade glücklich aus. Vielleicht ist er ja auch nervös, so wie ich?

„Guten Morgen“, sagt Austin mit einer neutralen Miene gepaart mit einer eher monotonen Stimme. „Morgen“, antworte ich und zwinge mich zu einem kurzen Lächeln.

„Seid ihr so weit?“, fragt er uns.

Jessica nickt: „Ja.“

„Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren, kommt rein“, kommandiert Austin.

Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu: „Was? Wieso? Was wollen wir denn in deinem Haus tun?“

„Siehst du gleich. Kommt jetzt.“

Also folgen wir ihm nach innen. Er deutet auf die Treppe in den Keller: „Da runter.“

Jessica und ich werfen uns einen skeptischen Blick zu. Wohin bringt er uns?

Mit vorsichtigen Schritten folgen wir ihm die knarzenden Treppenstufen nach unten in seinen kühlen Keller.

Bis auf eine Tür mit zwei Kerzenständern daneben ist der Keller komplett leer. Das jagt mir irgendwie einen Schauer über den Rücken.

„Austin… Was machen wir hier?“, frage ich und versuche meine Angst zu maskieren.

Ohne sich umzudrehen antwortet Austin mir: „Diese Tür bringt uns nach Durande.“

„WAS?!“, brüllen Jessica und ich im Einklang.

„Ist das dein Ernst?!“, rufe ich hinterher.

„Der spinnt doch!“, kreischt Jessica.

Austin achtet auf unsere Ausrufe nicht und greift sich den Türknauf. Mit einem Drehen desselbigen öffnet sich die Tür und vor uns sehen wir nichts als Schwärze.

Austin tritt einen Schritt zur Seite: „Nach euch.“

„W-was?!“, stoße ich hervor und stolpere einen Schritt zurück.

Austins eisblaue Augen starren mich an. „Wenn ihr mir nicht vertraut, brauchen wir den Weg gar nicht erst auf uns zu nehmen.“

Jessica greift sich meinen Arm und marschiert auf die geöffnete Tür zu. Ehe ich irgendwie reagieren könnte, sind wir von kompletter Schwärze umgeben. Mir ist bitterkalt und die Lichter aus dem Keller werden hinter mir immer kleiner. Ich schließe die Augen und stoße einen gequälten Schrei aus.

 

Als ich die Augen wieder öffne, liege ich auf einer Wiese.

 

Allein.

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