Kapitel 6 - Vergangenheit und Zukunft

 

Jessica war nicht immer so eine durchgeknallte Psychopathin, die anderen androht, sie zu zerstören. Ich habe sie damals in der Schule kennengelernt. Wir kamen auch ziemlich schnell zusammen und zwei Jahre nach unserem Abschluss haben wir geheiratet (Ja, unsere Beziehung hat die Highschool tatsächlich überlebt.) Als ich dann 22 war, bekamen wir Melinda. Sie war nicht geplant, da wir beide noch ziemlich jung waren. Jessica ist ein Jahr jünger als ich. Mit 25 (beziehungsweise 24) haben wir uns scheiden lassen. Melinda war da erst drei Jahre alt. Das ist jetzt acht Jahre her. Jetzt bin ich 33 Jahre alt und treffe meine Ex-Frau wieder. Aber genug mit den ganzen Zahlen und Daten. Ihr wollt bestimmt wissen, wie alles begann. Als erstes erzähle ich euch von der Zeit nach Melindas Geburt. Also, als unsere Beziehung ihren Höhepunkt hatte. Ab da ging es bergab. Das war natürlich nicht Melindas Schuld, sondern Jessicas. Ja, ich gebe ganz bewusst Jessica die Schuld. Schon klar, ich habe auch öfter Mist gebaut, aber NIE habe ich ihr Vertrauen missbraucht. Sie hat mich eiskalt hintergangen und das konnte ich ihr nicht verzeihen. Deshalb wollte ich auch die Scheidung.

 

 

11 Jahre zuvor

 

 

„Mhhhh…“, murrt Jessica. „Chris, du bist dran.“.

„Jaa… sofort…“, murmele ich und schlafe fast wieder ein.

„Chris!“, ruft Jessica im Halbschlaf.

„Okay, okay!“ klage ich. Dann stehe ich vom Bett auf und gehe zu unserem kleinen Schreihals.

 

 

„Nicht schreien, Melinda“, flüstere ich und nehme sie auf den Arm. Tja. Wenn sie reden könnte, würde sie jetzt „Nö“ sagen. Sie schreit also einfach weiter. Ich schaukele sie auf meinem Arm und hoffe inständig, dass es irgendeine Wirkung zeigt. Fehlanzeige. So verbringe ich Minute um Minute damit, Melinda zum Schlafen zu bringen. Aber leider möchte sie das nicht. Nach einer Stunde kippe ich vor Müdigkeit fast um. Ich schleppe mich zum Bett. „Halbzeit, Schatz“, murmele ich schläfrig und werfe mich aufs Bett. Jessica murrt und steht langsam auf. Dann geht sie zu Melinda. „Schatzi, nicht weinen“, meint sie.

 

Tja wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich an Melindas Stelle auch geschrien. Egal, zurück in die Vergangenheit.

Exakt drei Wochen danach kommt mein verlogener bester Freund, Aaron Morgan, vorbei. Ja, richtig. Der Kerl, mit dem Jessica mich betrügen wird. Im Ernst. Was hat er, was ich nicht habe?

 

 

Dieser Hornochse… Ich hasse seine Fratze. Ich war auf der Arbeit, als er kam. Jessica war zuhause. Der Rest dürfte euch bekannt vorkommen.

 

 

Und dann...

 

 

Und zu guter Letzt.

 

 

Die Chronik des Verrats, wie ich das Ganze auch gerne nenne. Diese Affäre ging fast drei Jahre so weiter, bis ich es spitz gekriegt habe und mich von ihr getrennt habe. Melinda habe ich regelmäßig gesehen. Es war die härteste Entscheidung meines Lebens, Bridgeport zu verlassen. Ich kann Melinda jetzt nicht mehr so oft sehen. Aber ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Jeder wollte ständig mit mir über Jessica reden. Jeder muss sich in meine Privatangelegenheiten einmischen. Jeder will auf dem neuesten Stand sein. Mein Kopf war am Platzen. Ich musste die Stadt also verlassen. Willow Creek habe ich nur ausgewählt, weil es nicht so weit von Bridgeport entfernt ist und weil es ein Archäologiezentrum hat. Sonst wäre ich wohl nach Oasis Springs gegangen. Klar, es ist weiter weg, aber immerhin wäre Jessica nicht dort gewesen. Gutes Stichwort. Da türme ich aus Bridgeport, nur damit Jessica mir hier in Willow Creek weiter auf die Nerven gehen kann. Was muss ich bloß tun, um diese Frau loszuwerden? Den Kontinent verlassen?

 

Aber jetzt noch einmal im Detail: Nach unserer Scheidung bin ich in eine Wohnung am anderen Ende von Bridgeport gezogen. Da bin ich vielleicht ein Jahr geblieben. Dann bin ich zu meinen Eltern aufs Land zurückgekehrt. Sie haben eine große Farm, etwa zwei Autostunden von Bridgeport entfernt. Dort habe ich die meiste Zeit gelebt, bevor ich jetzt vor kurzem nach Willow Creek gezogen bin. Melinda habe ich da kaum noch gesehen, da sich vier Stunden Autofahrt mit meinem Tagesplan nicht ganz decken. Irgendwann habe ich dann den Entschluss gefasst, nach Willow Creek zu ziehen. Eben aus den Gründen, die ich vorhin schon genannt habe. Es ist näher an Bridgeport dran, aber nicht zu nah, sodass ich nicht ständig mit meiner Vergangenheit konfrontiert werde. Hört sich alles vielleicht kompliziert an, aber so ist die Vergangenheit nun mal. Was wirklich zählt, ist, dass ich jetzt hier bin und Jessica auch. Halte ich das ganze wirklich noch einmal aus…?

 

Genug davon. Ich muss mich auf das hier und jetzt konzentrieren. Gerade als ich mein Büro betreten will, höre ich hinter mir eine Stimme nach mir rufen: „Chris! Warte mal kurz!“. Ich drehe mich um. Es ist Carlos.

 

 

Ich wundere mich ein bisschen. Was könnte er von mir wollen? „Hi“, sage ich, als er mich erreicht hat. „Die Abteilung trifft sich in 10 Minuten im Sitzungsraum. Etwas kurzfristig, ich weiß, aber es wird sich lohnen“, versichert er mir grinsend. Ich nicke ihm zu und er geht und klopft an Chloes Tür. Ich setze mich kurz an meinen Schreibtisch und versuche, klare Gedanken zu fassen. Es ist ziemlich anstrengend, wenn dir manche Dinge nicht mehr aus dem Kopf gehen.

 

 

Nach 5 Minuten stehe ich wieder auf und gehe langsam zum Sitzungssaal. Dort sitzen schon meine Freunde und Jessica. Als ich den Raum betrete, schauen mich alle an. Es ist mir unangenehm und ich setze mich einfach auf den Stuhl neben Jeff. Danach wenden die meisten zum Glück den Blick ab.

 

 

Jetzt fängt Carlos an zu reden.

 

 

„Ich will euch nicht lange aufhalten, also komme ich gleich zur Sache. Ich habe gerade eben einen Anruf aus Oasis Springs bekommen. Unsere Abteilung kann dort ab nächster Woche an Ausgrabungen teilnehmen“, erzählt er mit einer hörbaren Freude in der Stimme. Alle im Raum machen große Augen. Chloe meldet sich zu Wort: „Das letzte Mal ist auch ganz schön lange her.“ Die anderen lachen. „Wie sieht’s mit einer Unterkunft aus?“ fragt Jessica. „Wieder so wie letztes Mal?“. Carlos nickt. „Ja. Gut, dass du das ansprichst. Wir haben nur begrenzt Platz, also werden sich wieder je zwei Personen eine Hütte teilen müssen“, erklärt er. Nachdem er das gesagt hat, beginnt jeder, die Person anzusehen, mit der er sich die Hütte teilen möchte.

 

Gott steh mir bei.