Kapitel 8 - Spontanität

 

Der restliche Tag verläuft ziemlich ruhig. Ich treffe Jessica nicht und einige meiner Freunde meiden mich immer noch. Nach weiteren trostlosen Stunden, habe ich endlich Feierabend. Etwas lustlos sperre ich mein Büro ab und gehe langsam zu den Treppen. Als ich in der Halle ankomme, sehe ich das Mädchen von vorhin einige Ausstellungsstücke betrachten.

 

 

Ich will mich unbedingt bei ihr entschuldigen, weil ich sie ziemlich schlecht behandelt habe. Aber ihr Name fällt mir einfach nicht mehr ein. Ich grabe in meinem Hirn nach, aber finde ihren Namen einfach nicht. Nach einer halben Minute gebe ich es auf. Es muss nämlich ziemlich seltsam aussehen, wie ich an der Treppe stehe und grübele. Ich gehe zu ihr.

 

 

„Hey“, sage ich. Sie sieht mich freundlich an. „Ich habe leider deinen Namen vergessen“, murmele ich. „Aber ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich bin heute nicht gut mit dir umgesprungen. Tut mir Leid. Ich hab‘ zurzeit ein bisschen Stress“, erkläre ich. Sie winkt ab. „Macht überhaupt nichts, Sir. Ich heiße Kendra Leeds“, frischt sie mein Gedächtnis auf. „Du kannst mich gerne Chris nennen. Wenn du Sir sagst, fühle ich mich genauso alt, wie ich leider bin“, lache ich. Sie lacht auch. Sie hat eine wunderbare, laute und angenehme Lache. „Du hast vorhin gesagt, dass du dein Studium erst vor kurzem beendet hast, oder? Wie alt bist du?“, frage ich. Sie nickt. „Ich bin 25. Ich hab‘ mich schon immer für alte Sim-Zivilisationen interessiert“, erklärt sie. „Ja! Das finde ich auch am spannendsten“, stimme ich ihr zu. Und ehe ich mich versehe, entwickelt sich ein richtiges Gespräch. Wir reden über alles mögliche. Ich erfahre, dass sie einen Bruder hat und sie erfährt, dass ich mal verheiratet war und eine Tochter habe. Wir reden fast eine Stunde lang miteinander. Schon wieder komme ich so spät aus der Arbeit raus.

„Was machst du eigentlich noch hier Kendra? Du hast die Stelle bekommen, hast du gesagt. Warum gehst du nicht nach Hause und ruhst dich aus?“, frage ich lächelnd. Aus heiterem Himmel fallen ihre Mundwinkel und sie wird ganz stumm.

 

 

Ich wundere mich sehr. „Kendra? Was ist?“, frage ich. Sie wischt sich eine Träne weg. „Meine Eltern haben mich rausgeschmissen“, schnieft sie. Mir fällt der Mund auf. „Im Ernst? Wieso?“, frage ich schockiert. Sie zuckt mit den Schultern, antwortet mir aber trotzdem. „Sie meinten ich muss auf die harte Tour lernen, dass ich nicht für immer bei ihnen bleiben kann und dass ich anfangen muss, für mich selbst zu sorgen“, erklärt sie weinend. Ich schließe die Augen und atme durch. Mit noch immer geschlossenen Augen, spreche ich weiter: „Du hast also kein Zuhause mehr?“ Ich sehe zwar nichts, aber ich höre sie auch nicht antworten. Das muss wohl leider „Ja“ bedeuten. Ich öffne die Augen wieder. Dann ringe ich innerlich mit mir. Sie ist eine sehr nette Person. Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie vorübergehend bei mir wohnen möchte. Bevor ich sie allerdings fragen kann, sagt sie etwas: „Aber für die nächsten Tage kann ich bei einer Freundin unterkommen. Leider nicht für immer. Sie zieht bald weg“, murmelt Kendra schniefend. Ich nicke: „Okay… Das ist gut.“ Dann wischt sich Kendra wieder eine Träne weg: „Ich… geh dann mal. Ich glaube, sie müsste inzwischen zuhause sein.“ Ich nicke nochmal. „Okay… Dann… bis morgen?“, frage ich. Kendra nickt und lächelt mit Tränen in den Augen. Dann dreht sie sich um und geht zur Tür hinaus.

 

 

Nachdem sie weg ist, muss ich schlucken. Sie ist so ein netter Mensch. Das hat sie nicht verdient. Seufzend gehe ich auch nach Hause.

Am nächsten Morgen bin ich ziemlich früh dran.

 

 

Als ich die Halle betrete, sehe ich nur eine einzige Person. Es ist Kendra. Ich gehe sofort zu ihr. „Guten Morgen. Du bist ja früh da!“, rufe ich. Kendra lächelt. Sie scheint nicht mehr traurig zu sein wegen gestern. „Ja! Ich muss jetzt sehr vorbildlich sein. Die ersten paar Wochen wird mir jemand bei der Einführung helfen und mich auch beobachten“, erklärt Kendra. Ich nicke. „Oh. Das ist komisch. Wer wird dich denn beobachten? Carlos?“, frage ich. Kendra schüttelt den Kopf. „Eine Frau namens Jessica Sankaran. Ich soll hier auf sie warten“, macht Kendra klar. Mir gefriert das Blut in den Adern. „J-jessica? Kendra… Es wäre besser, wir würden nicht mehr so viel reden“, murmele ich betroffen. Kendra reißt die Augen auf. „W…was? Warum? H…h…hab ich etwas falsches gesagt? Tut mir Leid!“, ruft sie mit einer panischen Stimme. Ich schüttele den Kopf. „Ich habe dir doch erzählt, dass ich geschieden bin. Jessica Sankaran ist meine Ex-Frau. Sie ist eine Irre, die mich jetzt zerstören will. Wenn sie uns zusammen sieht, wird sie dich auch…“, beginne ich zu erklären, doch da hören wir eine laute Stimme von der Treppe nach mir rufen. „Guten Morgen, Chris.“

 

 

Ich seufze laut. Verdammt. Jetzt wird Kendra wegen mir in Mitleidenschaft gezogen werden. „Jessica“, murmele ich, als sie uns erreicht. „Du bist wohl Kendra, richtig?“, sagt Jessica arrogant und mustert Kendra von oben bis unten. Kendra nickt verlegen. „Ich bin Jessica Sankaran. Meinen Mann hast du auch schon kennengelernt“, schmunzelt Jessica. „Ex-Mann.“, betone ich. Jessica grinst. „J-ja richtig, Ms. Sankaran“, stottert Kendra. „Na schön. Komm mit“, sagt Jessica. Dann wirft sie mir noch einen eiskalten Blick zu und verschwindet mit Kendra im oberen Stockwerk. Ich seufze und bete, dass sie Kendra nicht schlecht behandeln wird.

 

Jetzt wo die Abteilung bald nach Oasis Springs fährt, habe ich nicht mehr so viel zu tun. Deshalb erlaube ich es mir, kurz an Chloes Büro anzuklopfen. Keine Reaktion. Ich wundere mich. Dann will ich die Türe öffnen, doch sie ist abgeschlossen. Komisch. Ich zucke mit den Achseln und gehe wieder an die Arbeit. Chloe ist heute wohl nicht da.

 

Als ich nach etwa vier Stunden dann Pause machen will, merke ich, dass heute fast niemand da ist. Weder Heather noch Rick oder Jeff. Gehen sie mir alle aus dem Weg, oder haben die alle heute frei? Als ich in der Halle ankomme, sehe ich Jessica und Kendra. Jessica steht genervt vor einer schluchzenden Kendra.

 

 

Ich bin in Alarmbereitschaft und laufe zu ihnen.

 

 

„Hör endlich auf zu heulen, Kendra!“, schreit Jessica gerade. Kendra sieht verunsichert und erschrocken aus. „Jessica! Was fällt dir ein?“, brülle ich sie an. Jessica verdreht die Augen. „Na ist doch wahr. Kein Wunder, dass kein Kerl dich will, du Heulsuse“, sagt Jessica in einem abfälligen Ton. Ich kann gar nicht glauben, was Jessica zu einer neuen Kollegin sagt. Was geht bloß in ihrem Kopf vor? Aber nein. Nicht diesmal. Diesmal wird sie nicht gewinnen. Diesmal wird sie sehen, dass sie nicht immer Recht hat. In mir kocht eine Wut hoch.

 

„Kendra!“, brülle ich. Sie sieht mich an. Dann gehe ich zu ihr.

 

 

Oh Gott... Was habe ich bloß getan?