Kapitel 9 - Wiedergewonnene Liebe

 

Noch während unsere Lippen sich berühren, bereue ich meine Vorgehensweise. Ich löse mich schnell wieder von Kendra. Jessica starrt mich mit einem hasserfüllten Blick an. Ich kenne es bereits, wenn ihr Gesicht mal wieder ihre böse Natur wiederspiegelt, aber diesmal kann ich die unbändige Wut in ihren Augen beinahe schon sehen. Ich trete einen Schritt von Kendra zurück. „T-tut mir Leid…“, stottere ich, drehe mich um und verschwinde schnell im ersten Stock. Ich setze mich in mein Büro und kann einfach nicht glauben, was ich gerade getan habe. Ich seufze einmal laut, um meinen Frust loszuwerden. Ich bin kein bisschen besser als Jessica. Ich bin genauso untreu wie sie. Mal ganz im Ernst. Wir haben ein Kind, also werden wir für immer verbunden sein und das bedeutet ich bin für immer mit ihr zusammen, obwohl wir schon längst geschieden sind. Also habe ich sie gerade vor ihren Augen betrogen, oder etwa nicht? Ich wische mir eine Träne aus dem Auge und fühle mich, als hätte ich meine ganze Familie betrogen. Dann öffnet sich ohne Vorwarnung die Bürotür und eine wütende Jessica betritt das Zimmer. Dann stehen wir uns gegenüber.

 

 

„Also?“, fragt sie mich. Diese Tonlage kenne ich. Sie versucht sich zu beherrschen. Normalerweise würde sie sich jetzt die Seele aus dem Leib schreien. Ich sage nichts und schniefe nur. „Chris… Rede verdammt noch mal. Hör auf zu heulen und REDE!“, brüllt sie. Ich schlucke. „Ist das jetzt deine „Rache“? Irgendwelche Frauen vor meinen Augen abzuknutschen? Wann wirst du endlich verstehen, dass das mit Aaron mir unendlich Leid tut? Hm? Ich sage es nicht nur so, es tut WEH. Der Gedanke, dass ich dich und Melinda hintergangen habe tut WEH“, schreit sie. „Aber dir macht es wohl Spaß mich immer wieder daran zu erinnern und mich schmoren zu lassen, indem du mir einfach nicht verzeihen willst.“ Ich senke meinen Kopf noch weiter, damit sie nicht sieht, dass meine Tränen wie ein Fluss fließen. Jessica schweigt für einen Moment. Es herrscht eine unangenehme Stille. „Mich nennst du ein Biest, aber dir macht es Spaß, mich zu quälen“, sagt sie mit einer traurigen Stimme. Dann dreht sie sich um und will zur Tür hinausgehen. Doch da hebe ich meinen Kopf wieder. „Warte…“. Da bleibt sie erstarrt stehen, dreht sich jedoch nicht um. „Du hast Recht“, schniefe ich. Ich wische mir jetzt noch die letzten Tränen aus den Augen, damit ich wieder ernstzunehmender bin. „Manchmal muss man über seinen Schatten springen. Das hätte ich schon längst tun müssen“, erkläre ich. Jessica dreht sich um und sieht mich bedrückt an. „Ich verzeihe dir“, sage ich. Sie steht eingefroren da und regt sich nicht. Dann kullern ihr ebenfalls Tränen übers Gesicht. Sie kommt zu mir. „Wirklich?“. Ich bin zu erschüttert, um überhaupt etwas zu sagen, also lasse ich meinen Gefühlen einfach freien Lauf.

 

 

Es ist komisch. Ich fühle mich nicht so, als hätte ich gerade etwas Falsches getan. Es fühlt sich richtig an. Ich spüre wie mein Herz ziemlich schnell schlägt. Das hatte ich früher in der Nähe von Jessica immer. Ich lasse sie wieder los. „Ashanti hat gesagt, du liebst mich immer noch“, meine ich. Jessica nickt: „Es klingt vielleicht etwas kitschig, aber ich habe nie aufgehört dich zu lieben“, erklärt sie. Ich schlucke. Unsere Scheidung ist doch schon ziemlich lange her und der Gedanke, dass Jessica mich in der Zwischenzeit nicht vergessen hat, geht mir ziemlich nahe. Ich habe die letzten Jahre kaum mehr an sie gedacht. Ich umarme sie nochmal.

 

 

Jessica lächelt mich an. Ich weiß gar nicht, was ich alles fühle. Sie lächelt mich tatsächlich einfach nur an, ohne den Hintergedanken mir schaden zu wollen oder mich den Wölfen zum Fraß vorwerfen zu wollen. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl, das seit unserer Scheidung so weit entfernt war, dass ich dachte, es nie wieder zu fühlen. Ich halte ihre Hände ganz fest in meinen.

 

 

„Kommst du mit Melinda heute zu mir…?“, frage ich zögerlich. Ich will Melinda unbedingt sehen. Jessica nickt sofort. „Ja, klar.“ Ich bin in diesem Moment so unbeschreiblich glücklich. Eine ewig lange Zeit habe ich mich nicht mehr so gefühlt. Jessica seufzt. „Ich muss mich wieder um Kendra kümmern. Wir sehen uns nachher.“, meint sie. Sie lässt meine Hände sanft los und möchte sich gerade umdrehen, als ich sie noch zurück halte. „Bitte sei nett zu ihr, okay? Sie hat es zurzeit nicht leicht. Bitte, für mich!“, appelliere ich an sie. Jessica nickt und versichert mir mit ihrem Blick, dass sie tun wird, was ich will. „Danke“, sage ich. Dann gebe ich ihr noch einen Kuss auf die Wange und sehe ihr hinterher.

 

 

Es ist verrückt. Vor einigen Minuten haben wir uns noch verachtet und jetzt sind wir wieder an dem Punkt, an dem wir nach Melindas Geburt waren. Ashanti ist zwar dusslig, aber sie hat mit ihren Wahrsagereien immer Recht...

 

Als ich Feierabend habe, warte ich in der Halle auf Jessica. Es ist schon dunkel geworden und die meisten Leute sind schon weg. Ich warte noch gar nicht lange, da kommt Jessica die Treppen hinunter. Als sie mich sieht, setzt sie ein Lächeln auf und kommt zu mir. Ich hatte sie den restlichen Tag lang nicht gesehen und umso mehr freut es mich, sie jetzt zu sehen.

 

Auf Kollateralschäden habe ich leider nicht geachtet…