Kapitel 22 - Das Schicksalsrad dreht sich: Teil 1

Meine Mutter verbringt die nächsten paar Stunden in der Küche und lässt kein Rezept aus ihrem persönlichen Kochbuch aus. Kein Aufwand ist ihr zu groß, damit Austin Gefallen an unserer Familie findet. Liebe geht bekanntlich durch den Magen, oder? Kurz bevor meine Mutter uns zum Abendessen ruft, sitze ich im Schlafzimmer und habe endlich mal einen Moment für mich. Mir fällt ein, dass ich total vergessen habe, Kendras Nachricht zu lesen. Ich nehme mein Handy in die Hand und öffne schnell unsere Unterhaltung. Die letzte Nachricht, die sie mir geschickt hat, liest sich wie folgt:

 „Chris, ich wollte dich etwas fragen.“

 

Verwundert tippe ich sofort eine Antwort:

„Na klar frag nur.“

Während ich auf eine Antwort von ihr warte, gehen mir unzählig viele Dinge durch den Kopf. Ich bekomme Angst, dass sie mich etwas bezüglich des Kusses fragen will. Ich glaube, ich habe ihr nie wirklich erklärt, dass das nur eine Kurzschlussreaktion gewesen ist. Alleine daran zu denken, ist mir unglaublich unangenehm. Ich schüttle heftig den Kopf, als ob der Gedanke physisch an meinem Kopf kleben würde und ich ihn loswerden müsste. In dem Moment ertönt mein Handy und ich lese ihre Antwort:

 „Erinnerst du dich zufällig an dieses eine Fundstück aus Oasis Springs, das wie eine kleine, schwarze Perle aussah? Es wird vermisst.“

 

Ich nicke verwundert, als ob sie es sehen könnte. Natürlich erinnere ich mich an die kleine Perle. Die anderen Ausgrabungsteams hatten einige Gegenstände gefunden und diese Perle war neben den Knochen eines der bemerkenswertesten Stücke. Aber Kendra behauptet, dass diese Perle verschwunden wäre. Das verstehe ich nicht. Es ist eigentlich sehr unüblich, dass so etwas passiert, weil die Fundstücke mit großer Sorgfalt transportiert werden.

Ich kann mir keinen Reim darauf machen und tippe:

 „Was? Wo könnte sie denn sein?“

 

Kaum schicke ich diese Nachricht, fängt mein Handy an zu klingeln. Es scheint so, als würde Kendra lieber gleich persönlich darüber sprechen wollen. Ich gehe ran und höre Kendras Stimme: „Chris, tut mir leid, dass ich jetzt anrufe, aber ich glaube, so ist es einfacher.“ Ich lächle und stimme ihr zu: „Ja, da hast du recht.“ Dann wollte ich gleich zur Sache kommen: „Kendra, wie kann denn diese Perle verschwunden sein?“ Ohne zu zögern kommt ihre Antwort. „Als wir am Archäologiezentrum angekommen sind, haben wir die Fundstücke aus den Kisten herausholen wollen, als wir gemerkt haben, dass laut unserer Liste diese Perle fehlt“, erzählt sie mir hektisch. Ich schüttle genervt den Kopf, als ich das höre. „Aber wie kann das denn passiert sein? Haben wir die Perle in Oasis Springs vergessen?“, frage ich sie. Kendra ist so aufgedreht, dass ihre Antworten wie aus der Pistole geschossen kommen. „Nein, ich bin mir sicher, dass wir sie in die Kiste gelegt haben. Deswegen bin ich auch so verwirrt gerade!“, ruft sie so laut, als müsste ihre Stimme von Willow Creek bis hierher reichen. „Das gibt’s doch nicht!“, brülle ich beinahe schon ins Telefon, „Hat etwa jemand diese Perle geklaut?!“. Der Umstand, dass ein Fundstück entwendet worden sein könnte, macht mich fuchsteufelswild. Das ist eines der größten No-Gos in meiner Branche. Wir versuchen schließlich, mehr über die Vergangenheit zu lernen und dafür braucht man alles was man finden kann. Jetzt ist diese kleine Perle weg, bevor sie analysiert werden konnte. Ich höre Kendra seufzen. „Wir verstehen es alle nicht. Die Kiste haben wir gemeinsam geöffnet und doch ist diese Perle irgendwie verschwunden“, erklärt sie mir entmutigt. „Aber gut. Das war alles was ich sagen wollte. Tut mir leid, dass ich stören musste“, fügt Kendra hinzu. „In Ordnung. Darüber wird die Abteilung am Montag nochmal eine Sitzung einberufen müssen“, murmele ich vor mich hin. „Ja, stimmt“, höre ich Kendra sagen. Ich will mich verabschieden: „Okay, dann sehen wir uns. Danke für den Anruf, Kendra. Bis dann.“ Sie wünscht mir trotzdem noch ein schönes Restwochenende und legt auf.

 

Ich mache mich langsam auf den Weg in die Küche, weil bald Essenszeit sein sollte. Die Perle geht mir allerdings nicht mehr aus dem Kopf. Gerade als ich die Treppe hinunter gekommen bin, höre ich meine Mutter laut meinen Namen rufen: „Chris! Komm zum Essen!“ Ich stehe schon an der Küchentur und lure in den Raum. Wren und mein Vater sitzen bei der Kücheninsel, weil am Tisch nicht genug Platz für uns alle ist. Unser Ehrengast hat es sich mit dem Rest meiner Familie am Esstisch gemütlich gemacht. Ich rolle noch ein letztes Mal mit den Augen, bevor ich den Raum betrete und ein falsches Lächeln aufsetze. Dann nehme ich neben Jessica am Tisch Platz. Meine Mutter teilt hektisch das Essen auf unsere Teller aus, wobei sie natürlich mit Austin anfängt und seinen Teller so volllädt, dass er beinahe überläuft. Austin sitzt nur stumm da und sagt kein Wort dazu, dass meine Mutter versucht ihn zu mästen.

Ich drehe meinen Kopf zu Jessica rüber. „Ich hab gerade erfahren, dass ein Fundstück von der Ausgrabung vermisst wird!“, weihe ich sie ein. Sie sieht unbeeindruckt aus. „Haben diese Tölpel auf dem Weg tatsächlich Fracht verloren?“, meint sie nur dazu und lädt sich etwas Salat auf den Teller. Ich schüttle mit dem Kopf: „Nein, die Kisten waren alle gut verschlossen. Es fehlt so eine schwarze Perle. Ich weiß nicht, ob du sie schon gesehen hattest.“ Jessica überlegt für einen Augenblick, bevor sie mit den Schultern zuckt. „Nicht, dass ich wüsste.“, teilt sie mir schließlich mit. Wie schön, dass sie so ruhig bleiben kann, mich stört dieser Umstand nämlich sehr. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass Austin mich schon die ganze Zeit anstarrt. Hat er gerade zugehört? Ich drehe den Kopf zurück zu ihm und was ich sehe, erschreckt mich so sehr, dass ich kurz hörbar nach Luft schnappe.

 

Zum ersten Mal, seit Austin hier ist, sehe ich einen emotionalen Ausdruck in seinem Gesicht. Seine Augen sehen mich an und er schaut fast… glücklich aus. Ein kaum sichtbares Lächeln formt sich auf seinen Lippen. Obwohl dieser Anblick so ungewohnt ist, dass ich fast noch mehr Angst habe, als vor seinem Robotergesichtsausdruck, lächle ich zurück.

„Austin“, fängt meine Mutter an, „ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, wenn ich das frage, aber…“, bereitet sie ihr Verhör vor. „Mir fiel auf, dass Sie ja ganz alleine unterwegs sind. Wo ist denn Ihre Frau?“, fragt sie ihn neugierig. Die Emotionen in Austins Gesicht verziehen sich ganz schnell wieder und er dreht seinen Kopf langsam zu meiner Mutter, bevor er in seiner Trancestimme antwortet: „Ich bin nicht verheiratet.“ Meine Mutter macht für eine Millisekunde große Augen, dann sieht man ein Lächeln in ihrem Gesicht erscheinen. „Das kann ich kaum fassen. Ein Mann wie Sie muss doch sicher viele Verehrerinnen haben“, schmeichelt sie ihm. Austin blinzelt kurz. „Wenn Sie das sagen“, gibt er schließlich zurück. Meine Mutter sieht Vanessa mit einem kommandierenden Blick an. Daraufhin beginnt meine Schwester mit ihm zu reden. Ich kann leider nicht zuhören, weil Jessica mir spontan mit ihrem Ellenbogen die Rippen penetriert. „Aua! Was denn?“, frage ich sie mit gerunzelter Stirn. Jessica schaut mich streng an: „Deine Mutter übergibt deine Schwester gerade buchstäblich in die Hände eines Serienmörders, siehst du das auch?!“

Jessica sagt das immer auf so eine übertriebe Art und Weise, dass ich lachen muss. „Ja, ich sehe es“, flüstere ich kichernd. Sie schaut mich angewidert an und schüttelt leicht den Kopf: „Du siehst ja untröstlich darüber aus, Chris.“ Dann isst sie weiter. Ich schnaube leise. Was denkt Jessica denn, was ich dagegen tun könnte? Ihm zuerst einen Antrag machen? „Ich bin ja so froh, dass Sie heute bei uns geklingelt haben, Austin“, versucht meine Mutter immer noch, ihm Honig um den Mund zu schmieren. „Sie müssen mir versprechen, dass Sie uns sehr bald mal wieder besuchen werden, ja?“, fordert meine Mutter von ihm. „Sicher“, sagt er nur. Meine Mutter tauscht Telefonnummern mit Austin aus, während ich mich dafür in Grund und Boden schäme. Derart motiviert habe ich sie wirklich selten erlebt. Sie wird diese Nummer später sowieso Vanessa zustecken und ihr auftragen, mit Austin Kontakt aufzunehmen. Darauf verwette ich meine linke Hand.

Nach dem Essen kam, Gott sei Dank, der Reparaturdienst und kümmerte sich um den Defekt in Austins Auto, was ungewöhnlich schnell von der Hand ging. Als alles wieder einwandfrei funktioniert, stellen wir uns alle an die Straße, um uns von Austin zu verabschieden. Es war bereits dunkel geworden und leichte Regentropfen fallen auf uns herab. Mir fällt ein Stein vom Herzen, dass Austin nicht auch noch bei uns übernachtet. Meine Mutter umarmt ihn sogar und erinnert ihn an sein Versprechen, dass er bald wieder kommen würde. Er bestätigt das dann erneut, was ich absolut nervig finde. Vanessa reicht ihm die Hand und lässt ihn mit geneigtem Kopf wissen, dass es sie sehr gefreut hat, ihn kennenzulernen. Als er bei mir und Jessica ankommt, steht er nur da und sieht uns stumm an. Dann reicht er zuerst Jessica und anschließend mir die Hand: „Vielleicht sieht man sich ja mal.“ Mir läuft ein Schauer den Rücken hinunter, als er das sagt. Nein, bitte kein Wiedersehen mit dir. Ich lächle ihn notgedrungen an. Jessica tut nicht einmal das und gibt ihm nur ein kurzes „Tschüss“. Dann steigt Austin in sein Auto und fährt davon.

 

Während wir seinem Auto hinterhersehen, habe ich das ungute Gefühl, dass ich ihn noch längst nicht zum letzten Mal gesehen habe.