Kapitel 23 - Das Schicksalsrad dreht sich: Teil 2

Nachdem Austins Auto am Horizont verschwunden war, gingen wir zurück ins Haus. Das war sicher das seltsamste Wochenende, das ich bisher je erlebt hatte. Naja, nicht ganz, aber es kommt in die Top drei. Meine Familie hatte sich nach dem Essen ein wenig zerstreut. Mein Vater saß zusammen mit Wren vor dem Fernseher und ich hörte Wren gerade etwas über Fettsäuren und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Körper erzählen. Schon damals, als er sein Chemiestudium begonnen hatte, lag er uns in den Ohren mit seinem unnötigen Wissen. Nun, wo er älter war und sein Studium vollendet hatte, war er kein bisschen angenehmer geworden. Jessica hatte sich Melinda geschnappt und war mit ihr auf unser Zimmer gegangen, damit ihr jemand beim Packen half. Wir würden gleich morgen früh wieder zurück nach Hause fahren. Vanessa konnte ich nirgends finden, sie hatte sich wahrscheinlich gleich in ihr Zimmer verkrümelt. Ich frage mich, ob sie Austin wirklich mag. Sie kennt ihn ja schließlich nicht einmal. Momentan ist es doch einzig sein Aussehen, dass sie ernsthaft interessieren könnte, oder nicht? Mit diesen Gedanken im Kopf ging ich in die Küche, wo meine Mutter stand und das Geschirr vom Abendessen spülte.

 

Als sie mich bemerkt, dreht sie kurz den Kopf zu mir.

„Ach, Chris“, sagt sie nur und dreht sich wieder zurück zur Spüle.

Ich stelle mich neben sie und lehne mich an die Theke. Meine Augen starren sie an. Sie spürt wohl meinen Blick und dreht ihren Kopf abermals zu mir.

„Was ist?“, fragt sie mich verwundert.

Ich schweige einen Moment. Dann hole ich Luft:

„Mama, was soll das mit Austin und Vanessa? Ich wollte es wirklich ignorieren, aber ich finde es nicht in Ordnung, dass du diesen wildfremden Mann in unser Haus und wohl bald auch in unsere Familie holst, nur weil er das Waschbecken repariert hat“, erkläre ich mich. „Was kommt als nächstes? Vielleicht der Postbote, weil er uns immer die Briefe bringt?“

Sie blinzelt zweimal bevor sie einen strengen Blick aufsetzt.

„Christopher Coleman“, beginnt sie drohend und ich ahne nichts Gutes, „deine Schwester hat eine schlimme Trennung hinter sich. Du kannst sie nicht verstehen.“

Ich schnaube.

„Was soll das heißen, ich kann sie nicht verstehen? Ich habe mit Jessica genau dasselbe durchgemacht! Schlimmer noch, ich war verheiratet, als ich betrogen wurde“, gebe ich zurück. Mir war in diesem Moment gar nicht bewusst, wie kindisch es klang, meinen eigenen Schmerz größer als den meiner Schwester darzustellen. Seht her, ich habe viel mehr gelitten, also sollte sie nicht traurig sein. So in etwa muss es geklungen haben, was ich von mir gab. Doch meine Mutter hatte die Fähigkeit, problemlos meine defensive Seite heraufbeschwören zu können und auch dieses Mal war es ihr gelungen.

Sie kontert sofort: „Das mag sein, aber deine Schwester ist eine Frau. Wir spüren einen solchen emotionalen Schmerz tief in unserer Seele und deshalb weiß ich, dass Vanessa schnellstens die emotionale Bindung trennen muss“, philosophiert sie vor sich hin. Es war nichts neues, dass meine Mutter zwischen den Geschlechtern diskriminierte. Sie hatte eine sehr klassische Ansicht der Rollen von Mann und Frau.

„Du willst sie also mit diesem Mann ablenken?“, sage ich vorwurfsvoll.

Sie schüttelt den Kopf.

„Nein. Du hast doch selbst gesehen, dass er einen tüchtigen Eindruck macht! Wieso sollten wir Vanessa so einen Mann nicht gönnen?“, prangert sie mich an. Als ob ich Vanessa kein Glück gönnen würde! Ich merke, dass es keinen Sinn hat, mit meiner Mutter zu diskutieren. Sie war schon immer stur und tat immer das, was sie für richtig hielt, egal wie sehr man ihr ins Gewissen zu reden versuchte. Und das hatte ich dieses Wochenende oft genug probiert. Ich stoße mich leicht von der Theke ab, an die ich mich gelehnt hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehe ich mich um und verlasse die Küche. Die beiden müssen selbst wissen, was sie da tun. Ich gehe die Treppen hoch zu meinem Zimmer und sehe Melinda und Jessica immer noch am Boden sitzend fleißig packen.

„Wir packen!“, ruft Melinda, als bräuchte ich diesen Hinweis. Ich lächle ihr zu.

„Das machst du gut.“ Dann setze ich mich an den Bettrand und muss kurz durchatmen. Ob das von den Treppen oder dem Gespräch mit meiner Mutter kommt, weiß ich nicht. Als ich meinen Blick hebe, sehe ich gerade, wie Jessica etwas kleines, schwarzes ganz schnell in eine der Innentaschen ihres Koffers fallen lässt. Von dem Bruchteil einer Sekunde konnte ich nur erhaschen, dass es etwas rundliches war. Mein Interesse war wohl deshalb geweckt, weil ich das Gefühl hatte, dieses kleine Etwas schon einmal woanders gesehen zu haben. Während Jessica gerade seelenruhig eine Jeans und einen Pullover in den Koffer sortiert, schaue ich sie mit einem Gesichtsausdruck an, der immer entsetzter wird. Mir dämmert, was ich da gerade gesehen habe. So einen kleinen, pechschwarzen, aber trotzdem glänzenden Gegenstand kenne ich nur von einem anderen Ort. Mir brennt die Frage in der Brust, doch ich beherrsche mich, weil Melinda im Raum ist und ich diese Unterhaltung lieber unter vier Augen führen möchte. Also zwinge ich mich still dazusitzen und abzuwarten, bis sie fertig gepackt hatten. Meine Augen folgen jeder einzelnen von Jessicas Bewegungen. Jedes Kleidungsstück, das sie berührt und jedes Mal, wenn sie Melinda mit der Hand liebevoll über den Rücken streicht oder sich selbst die Haare aus dem Gesicht schnippt. Jessica war zu vielem fähig, das war klar. Zurückhaltung oder Zweifel kannte sie nicht, wenn es um sie selbst ging. Aber wäre sie wirklich SO weit gegangen? Ich ringe mit meinen Gedanken und jede Sekunde die vergeht fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und stehe auf.

„Melinda. Oma braucht dich unten. Geh mal nachsehen“, kommandiere ich. Zwei Paare verwirrter Augen sehen mich an. Jessica macht eine verdutzte Miene.

„Wieso wartest du solange damit, das zu sagen?“, fragt sie mit einem kleinen Lacher am Ende.

„Hab’s vergessen. Geh schon, Schatz“, wende ich mich an Melinda, die prompt aufsteht und fröhlich in Richtung Treppe hüpft.

Kaum war sie aus dem Zimmer, drücke ich die Zimmertür zu und sprinte förmlich zu Jessica. Sie schaut überrascht zu mir hoch. Nach einem kleinen Moment formt sich ein Lächeln auf ihren Lippen.

„Sag mir nicht, du willst JETZT…“, grinst sie mich an. Ich schüttele wild mit dem Kopf.

„Nein. Nein, ich will, dass du mir etwas erklärst“, fordere ich. Ihr Grinsen erlischt und an dessen Stelle tritt ein in Verwirrung leicht geöffneter Mund. „Hä?“

– „Nein, nichts ‚Hä?‘! Ich habe gesehen, was du da in den Koffer gesteckt hast, Jessica. Bitte, bitte, bitte sag mir, dass das NICHT diese schwarze Perle ist, die bei den Ausgrabungen entdeckt wurde und jetzt vermisst wird“, flehe ich sie förmlich an. Sie schweigt und ihre Augen starren in meine. Keiner sagt etwas, doch damit war bereits mehr gesagt, als nötig gewesen wäre. Ich schließe die Augen und presse meine Lippen zusammen. Dann sinke ich langsam auf den Bettrand und lasse meinen Kopf hängen. Derart enttäuscht hatte Jessica mich zuvor nur ein einziges Mal und ich hatte gehofft, mich nie wieder so fühlen zu müssen, denn ich wusste nicht, wie oft ein Herz das wohl auszuhalten vermochte. Nach einer gefühlten Ewigkeit der absoluten Stille, ergreife ich das Wort mit noch immer geschlossenen Augen:

„Wieso?“, frage ich sie mit einer nahezu emotionslosen Monotonie in der Stimme. Zunächst bekomme ich keine Antwort. Ich öffne die Augen und hebe meinen gesenkten Kopf wieder an. Jessica sitzt nur da. Ihr Gesicht verrät nicht, was in ihrem Kopf gerade vor sich geht. Reue? Vielleicht Stolz, dass sie es geschafft hatte, ein Fundstück zu stehlen. Vielleicht aber auch… Trauer? Ich warte gespannt, um es zu erfahren.

„Keine Ahnung“, sagt sie schließlich nur. Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte.

„Was?“, frage ich. Sie zuckt mit den Schultern.

„Genau das, was ich gesagt habe. Keine Ahnung. Ich habe die Perle in der Kiste mit den Fundstücken liegen sehen und habe sie einfach genommen. Einfach so. Kein Grund, kein Motiv, keine Absichten“, erklärt sie. Ich schüttele verständnislos den Kopf.

„Wie kommt man bloß auf so eine Idee? Du machst diesen Job nicht erst seit gestern. Wieso würdest du so etwas auf einmal tun?“, befrage ich sie, als stünde sie vor Gericht. „Es sei denn…“, ich wage es kaum den Satz zu beenden, „… du hast es schon vorher einmal getan.“ Jessica springt auf.

„Was? Nein, habe ich nicht!“, schreit sie. Ich stehe auch von der Bettkante auf, weil ich ihr in diesem Gespräch auf keinerlei Weise die Oberhand überlassen will.

„Was hast du mit dieser Perle überhaupt vor? Denkst du ernsthaft, du kannst sie einfach verkaufen? Die Leute würden doch sofort Fragen stellen!“, brülle ich, inzwischen mit einer spürbaren Röte im Gesicht.

„Ich hatte nie vor sie zu verkaufen, Idiot!“, schallt es zurück.

„ABER WAS DANN?!“, gebe ich mit wiederum erhöhter Lautstärke zurück.

„Gar nichts! Ich habe sie nur genommen, mehr nicht!“. Ich kann es kaum fassen, dass Jessica sich nun auch noch als Diebin entpuppt hat.

„Du wirst diese Perle zurückgeben“, flüstere ich drohend. Sie legt entsetzt die Hand auf die Brust.

„Das kann ich nicht! Wie sieht das denn aus? Was werden die Leute sagen?“

– „Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen, oder?“

„Und was, wenn ich es nicht tue?“, fordert sie mich heraus.

„Entweder du tust es, oder ich tue es“, stelle ich mit eiserner Miene klar, „Carlos wird es erfahren, von mir oder von dir.“ Sie nimmt die Hand wieder von der Brust.

„Dir liegt wohl gar nichts an mir. Sonst würdest du mich nicht solch einer Scham zur Schau stellen“, wirft sie mir vor.

„Von was für einer ‚Schau‘ redest du? Wir werden es mit Carlos im Privaten klären! Keiner wird es erfahren“, beschwichtige ich sie. Sie lacht.

„Im Privaten? Du bist so dumm.“ Sie muss meinen verdutzten Gesichtsausdruck wahrgenommen haben. „Carlos redet wie ein Wasserfall. Habe ich dir eigentlich mal erzählt, wie er sich das Maul über unsere gescheiterte Ehe zerreißt? Letztens habe ich zufällig gehört, wie er mit diesem Flittchen Heather und dieser nutzlosen Kendra getratscht hat.“ Ich war hin und hergerissen. Jessica war eine Meisterin der Manipulation und ich fürchtete mich davor, darauf hereinzufallen. Schon wieder… Ich schwieg also erst einmal einen Moment und dachte angestrengt darüber nach, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprechen könnte. Würde Carlos das tun? Und Heather? Vielleicht war sie sauer, weil ich ihre Gefühle damals nicht erwidert hatte. Aber wieso sollte Kendra das tun? War sie etwa wütend, wegen der Sache zwischen ihr, Jessica und mir? Meine Gedanken schossen quer durcheinander und ehe ich sie einfangen konnte, waren sie schon wieder entschwunden.

„Lüg nicht“, sagte ich wohl aus reiner Hilflosigkeit.

„Das würdest du dir wünschen, Chris. Aber keinem unserer ‚Kollegen‘ ist zu trauen. Chloe war einmal meine beste Freundin, aber jetzt ist sie eine Fahne im Wind, die sich nach jedem richtet, der ihr unterkommt.“ Ich seufze.

„Hör zu, diese Perle muss weg. Ich will nicht, dass sie bei uns gefunden werden könnte“, erkläre ich eindringlich. Jessica nickt.

„Na gut… Aber was willst du tun?“, fragt sie mich. Dieses Mal kam mir die Idee sofort, daher antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

„Gib sie mir. Ich werde sie unter die Fundstücke schmuggeln. Und dann sagen wir einfach, dass die Perle nie verloren war und dann reden wir nie wieder über diesen Vorfall. Und du arbeitest an deiner Kleptomanie, klar?!“, diktiere ich.

„Ich bin keine Kleptomanin!“, schnaubt sie.

„Pscht!“, zische ich und bringe sie zum Schweigen. Dann öffnet sie sogleich die Innentasche des Koffers, in die sie vorhin die Perle hat gleiten lassen. Ich sehe ihr zu, wie sie die Perle herausnimmt, ein letztes Mal betrachtet, als würde sie ihr Kind ansehen, und sie mir dann überreicht. Die Perle war wirklich einzigartig. Sie fühlte sich so… komisch an. Sie war schwärzer als die Nacht und doch schimmerte sie auf merkwürdige Art und Weise. Es erinnerte mich an poliertes Besteck, dessen Oberfläche glänzend die Umgebung reflektiert. Je länger ich sie so ansah, desto mehr verstand ich, warum Jessica sie genommen hatte. Ich starre direkt in die Perle hinein und nach und nach schien um mich herum alles zu verschwimmen. Als ob die Perle einen Bann auf mich gelegt hätte, fällt es mir immer schwerer, den Blick abzuwenden. Plötzlich werde ich an der Schulter gerüttelt.

„Hey, bist du noch da?“, höre ich Jessicas neugierige Stimme. Ich blinzle kurz und schüttle dabei leicht den Kopf, um mich wieder zu fassen.
Dann lege ich die Perle auf den Tisch.

„Wow. Fast kann ich es dir nicht übelnehmen, dass du dieses Ding geklaut hast“, lasse ich Jessica wissen. Sie hebt einen Zeigefinger an die Lippen.

„Sagen wir doch bitte ‚genommen‘ und nicht ‚geklaut‘, das klingt irgendwie netter“, mahnt sie mich. Ich nicke und stecke die Perle weg.

 

Damit ging unser letzter Tag bei meinen Eltern langsam zu Ende. Mit unseren gepackten Koffern machen wir uns am frühesten Morgen auf den Weg nach Hause. Zuhause angekommen, machen Jessica und ich uns kurz für die Arbeit fertig und fahren gleich zusammen los. Melinda ließen wir auf dem Weg an der Schule raus. Vor dem Archäologiezentrum zieht Jessica mich am Ärmel. „Weißt du schon wie du es machen wirst?“ Ich spüre ihre Nervosität und lege meine Hand auf ihre, die noch immer an meinem Ärmel hängt.

„Mach dir keine Sorgen, ich erledige das. Und dann können wir diese Sache endlich vergessen“, versuche ich sie zu beruhigen. Sie nickt langsam und ein Anflug von Erleichterung macht sich in ihrem Gesicht breit.

„Vergiss nicht, dass wir jetzt gleich die Krisenbesprechung wegen der Perle haben“, erinnere ich Jessica, während ich ihr die Eingangstür aufhalte. Sie schreitet zögerlich hindurch und gibt mir nur ein kurzes „Ja“.

„Bleib locker“, erinnere ich sie. „Die Perle ist bei mir.“

Sie hebt die Hand in einer deeskalierenden Geste.

„Schon gut, ich bin die Ruhe selbst. Ich lasse mich doch nicht von Carlos einschüchtern…“, murmelt sie. Ich nehme ihre Hand und so gehen wir das kurze Stück zum Konferenzzimmer, in dem wir uns auch getroffen hatten, als die Expedition nach Oasis Springs uns mitgeteilt wurde. Als wir eintreten, sehe ich die meisten unserer Kollegen bereits an ihren Plätzen sitzen. Rick winkt mir kurz zu, bevor er sich wieder seinem Freund Jeff zuwendet. Heather sieht nur kurz in unsere Richtung und wendet den Blick dann wieder ab. Chloe tut es ihr nach. Kendra scheint uns noch nicht bemerkt zu haben und Carlos sieht nicht so aus, als würde unsere Präsenz ihn sonderlich interessieren. Vielleicht ist das auch besser so, denke ich mir. Jessica und ich setzen uns an zwei freie Plätze. Nach und nach trudeln auch die letzten paar Archäologen ein und nehmen ebenfalls Platz. Als wir alle komplett sind, stellt sich Carlos vor uns. Er hat die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und sieht nachdenklich auf den Boden, während wir alle gespannt auf seine Worte warten. Nachdem im Raum komplette Ruhe herrscht und man eine Stecknadel fallen hören könnte, ergreift Carlos das Wort.

„Noch nie…“, beginnt er, „in meiner gesamten Karriere als Archäologe.“ Er hatte seinen ersten Satz noch nicht beendet und ich wusste bereits, er würde uns seine Enttäuschung mehr als klar machen. „Noch nie in meiner Laufbahn habe ich erlebt, dass ein Fundstück entwendet worden ist“, beendet Carlos seinen Gedanken. „Noch nie stand ich vor anderen Archäologen und musste ihnen sagen, dass sie in ihrer nahezu heiligen Aufgabe, die Vergangenheit unserer Existenz aufzudecken, zu beschützen und zu konservieren, versagt haben.“ Die Stille im Raum hält an. Es fühlt sich seltsam beschämend an, dass Carlos so spricht. Fast so, als würde man von einem Lehrer getadelt werden. „Wie ihr sicher alle wisst“, fuhr Carlos fort, „wurde in Oasis Spring bei unserer Ausgrabung eine kleine schwarze Perle gefunden.“ Einige Leute im Raum nickten zustimmend. Entweder einfach aus Reflex, oder weil sie die Perle tatsächlich gesehen hatten. „Wir wussten noch nicht viel über die Perle, außer dass sie wahrscheinlich aus derselben Zeitspanne stammt, wie die anderen Fundstücke, zum Beispiel die Knochen“, erklärt er. „Wie dem auch sei, eben jene Perle wurde kurz vor unserer Rückfahrt gestohlen.“ Viele der Kollegen wussten das bereits, aber scheinbar existierte ein kleiner Rest, der noch nichts davon wusste, was ihr empörtes Aufatmen zu verstehen gab. „Seitdem habe ich viele Anrufe getätigt und mich mit dem Distriktleiter und auch mit dem nationalen Altertumsministerium in Verbindung gesetzt. Es werden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Perle aufzuspüren.“ Ich höre Jessica neben mir leicht schlucken und unter dem Tisch streiche ich ihr sanft über die Hand. Ihr Blick wandert kurz zu mir herüber und dann gleich wieder zu Carlos. „Die Polizei wurde bereits eingeschaltet und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der oder die Täter gestellt werden.“ Diese Aussagen klangen eher wie Drohungen, aber das würde natürlich auch Sinn machen. Carlos hob mahnend einen Zeigefinger. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Erstens, der Täter ist einer von unserer Gruppe. Zweitens, der Täter ist einer der Archäologen von Catherines Gruppe aus Riverview.“ Die Leute im Raum sahen sich unsicher um, als ob sie versuchten die Schuld an den Gesichtern der anderen abzulesen. „Wenn es einer von Ihnen sein sollte, gebe ich Ihnen die Chance, mir die Perle zu übergeben. Das wird sich strafmildernd auswirken“, versichert Carlos.

Ich wage es nicht, auch nur eine Faser meines Körpers zu bewegen, aus Angst, ich könnte mich dadurch irgendwie verdächtig machen. Scheinbar geht es Jessica auch so, denn sie sitzt ebenfalls wie angewurzelt auf ihrem Stuhl und bewegt sich weniger, als eine Vogelscheuche. Carlos geht mit gesenktem Blick auf und ab, spricht allerdings nicht mehr. Meine Augen folgen jedem seiner Schritte nervös. Schließlich bleibt er stehen und sieht uns an.

„Ich bin schwer enttäuscht und mein Herz blutet für die Zukunft, wenn Sie sich Archäologen nennen.“ Mit einem leichten Kopfschütteln fügt er nach einer kurzen Pause hinzu: „Das war alles für die heutige Konferenz, Sie sind frei zu gehen.“ Dann macht er kehrt und verschwindet in einem Seitenraum. Ein großes Gemurmel geht im Raum los. Vereinzelt hört man Kollegen rufen:

„Melde dich einfach und gib die Perle zurück!“, oder, „Das ist eine Schande, mach es nicht noch schlimmer!“ Schlussendlich begann der Raum sich aber zu leeren. Jessica und ich stehen langsam von unseren Plätzen auf und gehen noch langsamer hinaus auf den Gang. Ich halte ihre Hand und spüre dabei, dass sie leicht zittert. Ich hoffe, sie hat ihre Lektion daraus gelernt!

Gerade, als ich mich von ihr verabschieden will, um in mein Büro zu gehen und mit der Arbeit zu beginnen, schlägt sie mir aufgeregt mit der Hand auf den Arm.

„Das gibt es nicht!“, keift sie mir ins Ohr. „Siehst du das?!“

 

 

Ich drehe mich in die Richtung, in die sie guckt, und sehe sogleich, was sie so aufgeregt hat.