Kapitel 25 - Der Vorhang fällt

Austins eisblaue Augen starren mich an. Wir stehen nur da und schweigen uns an. Ich merke, dass meine Hände unkontrollierbar zittern. Egal wie sehr ich versuche ruhig zu bleiben, ich schaffe es nicht. Das war’s dann wohl. Was ich befürchtet hatte, ist nun tatsächlich geschehen. Diese Perle ist uns schlussendlich also doch zum Verhängnis geworden.

Wie wird es jetzt weiter gehen? Wird Austin mir überhaupt zuhören, wenn ich versuche mich zu erklären? Selbst wenn ich es aufkläre, stehen wir immer noch dumm da, weil Jessica die Perle in erster Linie ja gestohlen hatte.

„Austin…“, flüstere ich furchterfüllt.

Mehr bekomme ich nicht heraus. Die Worte wollen mir nicht kommen. Mein Herz pocht so unkontrolliert, dass ich befürchte einen Herzinfarkt zu erleiden.

Sein Blick liegt inzwischen auf der schwarzen Perle, die ich in meinen Händen halte. Nach einigen Sekunden wandert sein Blick wieder zurück zu mir.

„Was hast du damit vor?“, fragt er mich.

Mir stockt der Atem.

„E-es ist wirklich nicht so wie es aussieht. Ich habe sie nicht geklaut! G-ganz im Gegenteil, ich will sie zurückbringen.“

Austin lächelt und sieht auf meine schwarzen Handschuhe. Ich blicke auch auf meine Hände hinunter und kneife die Augen zusammen. Die Handschuhe helfen meiner Version der Geschichte nicht gerade. Jeder, der mich so sieht, würde denken, ich würde gerade etwas entwenden.

„Du musst mir glauben, ich würde NIE…“, beteuere ich und sehe ihn flehend an.

Er lächelt immer noch.

„Sag mir einfach, wer dir das gegeben hat“, sagt er bestimmt und deutet mit seinem Zeigefinger. Ich folge seinem Finger zur Perle und schaue dann wieder zu ihm auf.

 

 

„Was? Niemand! Austin, es ist so…“, beginne ich, doch er unterbricht mich.

Seine Miene hatte sich komplett gewandelt. Das Lächeln war verschwunden und seine Augen fixierten mich mit einer spürbaren Aggression. Er macht einen Schritt auf mich zu.

„Hör mal her! Seit Tagen versuche ich dich allein anzutreffen, aber ständig sind andere Leute in der Nähe.“

Austins Stimme hat einen bedrohlichen Ton angenommen und sein Gesicht ist von Wut gezeichnet. Er steht jetzt direkt vor mir.

„Wa...?“, stammele ich und bin nicht dazu in der Lage irgendein Wort herauszubringen. Was hat das denn zu bedeuten?

„Wer hat dich beauftragt, dieses Artefakt zu bergen?“, verlangt er zu wissen. „Wenn du es von niemandem bekommen hast, hast du es wohl selbst ausgegraben.“

 

Mir stockt der Atem.

„M-man, wenn du dieses Ding unbedingt haben willst, dann nimm es doch! Diese Unglücksperle hat mir nichts als Kummer bereitet!“, rufe ich.

Ich hatte jetzt etwas Angst vor ihm, so aggressiv und konfrontativ hatte ich ihn vorher noch nicht erlebt.

Demonstrativ halte ich ihm die Perle unter die Nase. Meinetwegen konnte er sie gerne nehmen!

Austin reißt die Augen auf und tritt einen Schritt zurück, als ich ihm die Perle entgegenhalte.

 

Ich verstehe jetzt gar nichts mehr.

„Willst du die Perle jetzt, oder nicht?!“, frage ich störrisch nach.

Austin schweigt, doch ich höre ihn laut Atmen.

„Perle…?“, murmelt er mir zu.

Ich sehe hinunter auf meine Hand, wo ich sie noch immer trage. Ihre Oberfläche ist so reflektiv, dass ich mein eigenes Gesicht darin sehen kann.

„Ja, hier“, sage ich und versuche erneut, sie ihm zu reichen.

„Lass das!“, brüllt er mich an und taumelt noch ein wenig zurück. Seine Stimme war unglaublich laut, fast schon unnatürlich. Ich zucke zusammen und trete auch einen Schritt zurück. Austin stellte sich an, als würde man einem Vampir Knoblauch ins Gesicht halten.

„Austin, was willst du von mir?! Was ist dein Problem?!“, versuche ich zurückzubrüllen, doch meine Stimme wird nicht annähernd so laut wie seine.

Er keucht, als ob er gerade gelaufen wäre.

„Ich verstehe das nicht“, flüstert er gerade noch hörbar.

„Pah!“, stoße ich aus. „Frag mich mal!“

Er atmet jetzt etwas langsamer, jedoch immer noch deutlich. Seine Augen wandern von meinem Gesicht immer wieder zu der Perle und wieder hoch zu mir.

„Erzähl“, fordert er mich auf.

Ich zögere. „Können wir das woanders besprechen? Wir dürfen gar nicht hier drinnen sein! Lass mich nur kurz die Perle verstauen…“, sage ich.

Ehe ich einen Schritt machen kann, streckt Austin seine Hand nach mir aus.

„Nein! Du musst das Artefakt behalten!“

Ich reiße die Augen auf.

„Bist du verrückt?! Ich kann seit Wochen nicht mehr schlafen, weil ich Angst habe mit diesem Ding erwischt zu werden!“, rufe ich entsetzt. „Ich will dieses Teil nicht!“

Austin schüttelt den Kopf.

 

„Ich fasse es nicht…“, beginnt er leise, „…du hast den Seelenstein von Durande und behandelst ihn wie Ramsch vom Basar!“, beendet er seinen Satz beinahe brüllend.

„Hä?!“, stöhne ich. „Seelenstein?“

Ich schaue ihn mit Verwirrung im Gesicht an. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich fühlen soll. Ich hatte noch nie Austins Mimik, Gestik oder Stimme so animiert gesehen, wie in diesem Moment. Meine Stirn ist mit Schweiß bedeckt, mein Herz pocht noch immer wild.

„Du weißt wirklich nicht, was das ist?“, fragt er mich ungläubig.

Ich schaue ihn gebrochen an.

„Austin, wir haben diesen… ‚Seelenstein‘ … bei einer Ausgrabung gefunden! Jessica hat ihn geklaut und ich versuche seit Wochen ihn irgendwie wieder zurückzubringen, ohne dass jemand merkt, dass wir ihn hatten“, erkläre ich ihm in Windeseile.

„Deswegen war er also in eurem Besitz…“, flüstert er zu sich selbst.

Er sieht zu mir auf.

„Ich hatte mich schon gefragt, warum ihr mit dem Seelenstein zu deinen Eltern gefahren seid.“

Ich bin überrascht, von dem was er sagt.

„Warte mal… Wie lange verfolgst du uns schon?!“, will ich von ihm wissen.

Austin schweigt und schüttelt kurz den Kopf.

„Nicht hier… Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir woanders.“

Ich nicke. Das ist mir ehrlich gesagt ganz recht. Ich will raus aus diesem Raum, bevor Carlos uns hier sieht. Außerdem muss ich jetzt wirklich mit den Hockern hinunterkommen, von denen Carlos wollte, dass ich sie hole, bevor er Verdacht schöpft.

Austin dreht sich um und will schon zur Tür gehen.

„H-hey…“, rufe ich ihm zögerlich hinterher, „… was wird jetzt aus diesem Seelenstein? Ich will ihn nicht!“, betone ich ausdrücklich.

Austin bleibt stehen und dreht sich wieder zu mir. Seine Stirn liegt in Falten.

„Du musst ihn behalten. Es gibt viele Leute, die ihn haben wollen.“

Ich schüttle wild mit dem Kopf.

„Dann nimm du ihn doch!“

Austin knirscht mit den Zähnen.

„Kann ich nicht!“, bellt er mich an.

 

„Warum?!“, gebe ich zurück.

Er hebt seine Hand und versucht mich zum Schweigen zu bringen.

„Ich werde dir alles erklären, okay?“, verspricht er mir.

Ich zögere. Was bleibt mir jetzt noch anderes übrig, als ihm zu vertrauen? Ich mache mir Sorgen, dass er Carlos von allem erzählen könnte, wenn ich ihn sauer mache, also entscheide ich mich, sein Spiel mitzuspielen. Widerwillig stecke ich die Perle zurück in meine Tasche und ziehe die Handschuhe wieder aus.

„Komm jetzt“, kommandiert er und dreht sich zur Tür, „wir haben eine Feier vorzubereiten.“

 

Während ich Girlanden an der Wand aufhänge, geht mir diese Unterhaltung mit Austin keine Sekunde aus dem Kopf. Was zur Hölle ist der Seelenstein von Durande? Und wer ist Austin überhaupt? In meinem Kopf fliegen die wildesten Vorstellungen umher. Vielleicht ist er ein Okkultist, der glitzernde Objekte für Seelensteine hält. Vielleicht aber auch nur ein Irrer, der aus einer Anstalt entflohen ist. Man könnte meinen, diese Szene oben im Fundstückeraum wäre gar nicht geschehen, so seelenruhig schraubt Austin jetzt an der Disco-Kugel herum. Nachdem ich mit Austin wieder heruntergekommen war, hatte Jessica wohl ihren Augen nicht trauen können. Trotzdem schaffte sie es, sich zusammenzureißen und so zu tun, als wäre nichts, damit Carlos nichts merkt. Obwohl ich ihr den Rücken zukehrte, spürte ich ihre Blicke förmlich auf meiner Haut brennen.

 

Wir hatten den Raum rechtzeitig fertig dekoriert und es trudelten bereits die ersten Gäste ein. Jeder sieht unglaublich schick aus. Jessica und Carlos hatten sich an der Eingangstüre stationiert, um die Ankömmlinge gleich zu begrüßen. Austin und Ich stehen an einem der Stehtische, die wir aufgestellt hatten. Mir ist schlecht. Ich will mit diesem Perlen-Seelenstein nichts zu tun haben.

 

Heather löst sich von den anderen und kommt auf mich und Austin zu. Nachdem sie bei uns am Tisch ankommt, winkt sie Austin kokett zu.

 

„Hallo, die Herrschaften“, schmunzelt sie. „Mein Name ist Heather“, lächelt sie und reicht Austin ihre Hand.

Austin ist in den Robotermodus gewechselt: „Austin“, gibt er kurz zurück und schüttelt ihre Hand.

„Haben Sie hier neu angefangen, Austin? Ich habe Sie hier noch nie zuvor gesehen“, fragt sie ihn neugierig.

Er nickt: „Ja“. Sie kichert.

„Wie ich mir schon dachte! >SIE< hätte ich garantiert bemerkt“, lacht Heather. „Sollten Sie mal bei >irgendetwas< Hilfe benötigen, bitte zögern Sie nicht, es mich wissen zu lassen. Ich würde Ihnen liebend gerne zur Hand gehen“, sagt sie mit geneigtem Kopf.

„Danke“, höre ich Austins unmotivierte Stimme. Sie starrt ihn noch für einige Sekunden suggestiv an, bevor sie sich mit einem Grinsen im Gesicht von uns abwendet und weggeht. Ich sehe, wie sie zu Jessica geht und mit ihr zu sprechen beginnt. Einige Sekunden später macht Jessica ein angewidertes Gesicht. Ich kann mir schon denken, was Heather sie gefragt haben wird. Als nächstes kommt Jessica zu uns.

 

„Verschwinde!“, zischt sie Austin an. „Ich muss mit meinem Mann reden.“ Wie ungewohnt, von Jessica so genannt zu werden. Meine Augen fliegen förmlich zu Austin hinüber, um seine Reaktion zu sehen. Wie immer ist er sehr gelassen.

„Du kommst zu einem guten Zeitpunkt. Wir wollten gerade etwas besprechen.“, sagt Austin. Jessicas Gesicht verzieht sich so stark, wie schon lange nicht mehr.

„‘DU‘? Du ungezogener Herumtreiber! Du wirst mich gefälligst ordentlich ansprechen oder ich verpasse dir eine Abreibung, wie du sie noch nie in deinem Leben bekommen hast“, kreischt sie ihn an. „Für dich bin ich Frau Sankaran, du Tölpel.“

Ich verdrehe die Augen. Die Musikanlage läuft glücklicherweise und die Gespräche der anderen Leute im Raum übertönen Jessicas schrille Stimme.

„Jessica, lass es mal kurz gut sein. Es gibt wichtiges zu bereden…“, lasse ich sie wissen.

Sie reißt die Augen auf.

„Sag mir bloß nicht, du hast diesem Stalker etwas erzählt?!“, keift sie mich an.

„Hör auf so rumzuschreien, Jessica!“, zische ich.

Sie kreuzt die Arme und schnaubt.

„Was gibt es zu besprechen?“, fragt sie widerwillig.

Ich trete einen Schritt näher an sie heran. „Er weiß von der Perle.“

„W-WAA--“, beginnt Jessica zu schreien, doch ich halte ihr den Mund zu.

„Pscht!“, ermahne ich sie und ziehe meine Hand wieder weg, bevor uns jemand sieht.

Austin sieht sich um.

„Lasst uns wo anders sprechen. Irgendwo, wo es weniger Augen und Ohren gibt.“

Das wäre mir auch ganz recht, also gehen wir in die Sanitäterkammer, die gerade leer steht.

 

 

Ich erzähle Jessica, wie Austin mich im Fundstückeraum überrascht hat.

„Du hattest >eine< Aufgabe, Chris.“, sagt sie mit einem herablassenden Blick. Ich seufze.

„Was willst du jetzt tun, du ekelhafter Psycho?“, fragt sie Austin. „Uns melden?“

Er schüttelt langsam den Kopf.

„Ich brauche eure Hilfe“, sagt er. Ich hebe überrascht die Augenbrauen. Wobei könnte er unsere Hilfe gebrauchen?

„Ich würde lieber sterben, als dir zu helfen!“, giftet Jessica. Ich werfe ihr einen genervten Blick zu.

„Das, was ihr eine ‚Perle‘ nennt, ist in Wahrheit ein sehr mächtiges Artefakt. Es wird der ‚Seelenstein von Durande‘ genannt“, erklärt Austin.

„Was für ein bescheuerter Name“, kommentiert Jessica.

Austin ignoriert gekonnt ihre Einwürfe und erzählt weiter:

„Vor sehr langer Zeit wurde dieser Seelenstein entworfen, um die Seele eines sehr mächtigen Hexenmeisters gefangen zu halten.“

Ich reiße die Augen auf und Jessica schnaubt hörbar. Was redet er da? Hat er das gerade ernsthaft gesagt? Ich dachte immer, Jessica würde übertreiben, wenn sie ihn als verrückt darstellte, aber jetzt bin ich mir selbst nicht mehr sicher.

„Du bist doch krank im Kopf!“, brüllt Jessica meine zahmen Gedanken in ihrer Sprache heraus. „Diesen Müll höre ich mir nicht länger an. Melde mich doch bei Carlos, wenn du willst. Alles ist besser, als hier drinnen dieselbe Luft wie du zu atmen.“

Dann will Jessica davonstampfen.

„Frau Sankaran“, sagt Austin.

Sie ignoriert ihn und stampft einfach weiter.

BLEIB SOFORT STEHEN!“, brüllt Austin mit der Kraft eines Bulldozers. Seine Stimme durchdringt jede Faser meines Körpers.

Austins Gesicht hatte sich auf eine unmenschliche Art verfinstert. So eine böse Präsenz hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gespürt.

 

„W-Was bist du?!“, schreie ich entsetzt.