Kapitel 26 - Der Baron von Dunkelbrunn

Jessica war an Ort und Stelle eingefroren. Meine Gänsehaut war so stark, es fühlte sich an, als würde sie nie wieder vergehen. Austin keuchte nach seinem Wutanfall. Seine Stimme war so unglaublich laut geworden, dass ich dachte, sie könnte am anderen Ende der Welt noch gehört werden. Sein Gesicht war finster. Er sah… so böse aus. So teuflisch. Er kann kein normaler Mensch sein. Aber… Wie ist das möglich? >Was< ist er? Austin schnauft noch immer und legt den Kopf in seine Hände. Jessica dreht sich langsam wieder zu uns um. Wenn aus dem Foyer nicht die Musik zu uns herüberdröhnen würde, könnte man sicher eine Stecknadel fallen hören. Ich wage es kaum, Luft zu holen. Als Austin den Kopf wieder anhebt, sieht er wieder ganz normal aus.

„Verzeihung“, sagt er. Jessica und ich sehen uns unsicher an. „Wirklich… Es tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe. Das war nicht meine Absicht“, fügt er hinzu.

 

 

Austin seufzt. „Bitte hört einfach zu.“

Ich war sowieso schon mehr als bereit ein paar Antworten zu bekommen, Jessica musste sich nur etwas benehmen.

„Also, noch einmal“, flüstert Austin und holt tief Luft, „Der Seelenstein von Durande wurde entworfen, um die Seele eines Hexenmeisters einzusperren.“

Jessica schüttelt den Kopf, als er diesen Satz wiederholt.

„Dieser Hexenmeister war auch bekannt als der ‚Baron von Dunkelbrunn‘“, erklärt Austin. „Vom Schloss Dunkelbrunn.“

Ich lausche Austins Worten und fühle mich als würde mir meine Mutter ein Märchen erzählen. Was kommt als nächstes; Die gute, kleine Fee?

„Seine Seele… Sie befindet sich noch immer im Seelenstein“, seufzt Austin und zeigt auf meine Hosentasche. Ich mache große Augen.

„Was? Ich habe einen alten Hexenmeister in meiner Hose?“, frage ich zweifelhaft. Jessica schmunzelt: „Zaubern kannst du auf jeden Fall.“

Austin ergreift das Wort: „Ja. Seine Seele steckt jetzt gerade dort drinnen. Habt ihr denn noch nie gemerkt, dass diese ‚Perle‘ etwas seltsam ist?“

Ich überlege. „Hm. Nun ja… Wir sehen wirklich viele komische Gegenstände in unserer Arbeit…“, murmele ich.

Austin nickt. „Aber so etwas auch?“

„Jetzt, wo du es sagst. Das erste Mal, als ich diesen Seelenstein gesehen habe, war ich wie mit einem Bann belegt. Ich konnte den Blick kaum abwenden“, erinnere ich mich.

Erneut nickt Austin verständnisvoll. „Dieser Seelenstein ist sehr mächtig und ebenso gefährlich“, beginnt er zu erzählen. „Er war nie für eure Hände bestimmt.“

Wir schweigen und versuchen uns einen Reim auf das, was er da sagt, zu machen.

„Warum ist dieser Hexenmeister überhaupt da drinnen?“, will ich wissen. „Also, wer hat ihn eingesperrt und warum?“

 

 

Austin seufzt. „Ich denke es ist sinnvoller, wenn ich euch alles in chronologischer Reihenfolge erzähle“, behauptet er. „Uns darf hier niemand stören. Wartet kurz.“ Er geht zur Tür.

„Ich glaube, die kann man nicht absperren“, werfe ich ein. Austin ignoriert meinen Einwurf und stellt sich an die Tür. Dann hebt er die Hand und legt sie an den Griff. Plötzlich ertönt ein surrendes Geräusch, das sogleich wieder verschwindet, und Austin kommt wieder zurück zu uns. Jessica beobachtet ihn mit einer intensiven Skepsis.

 

 

„Was hast du da getan?!“, fragt sie ihn forsch.

„Ich habe die Tür mit einem Zauberspruch verriegelt“, erklärt er in einem gelassenen Ton.

Jessica macht erschrocken einen Schritt zurück und ich drehe mich verunsichert zur Tür. Hat er gerade „Zauberspruch“ gesagt? Ich werde nervös. Seelensteine, Hexenmeister und Magie? Was passiert hier? Ich möchte mit all dem wirklich nichts zu tun haben.

„Austin… tut mir leid, aber ich glaube wir sind nicht die Richtigen. Wir können dir leider nicht helfen“, sage ich und ziehe Jessica mit strammen Schritten zur Tür mit. Dort angekommen will ich den Griff hinunterdrücken, um die Türe zu öffnen, doch der Griff scheint wie versteinert. Egal wie fest ich ihn nach unten drücke, er bewegt sich keinen Millimeter. Jessica schaut mich nervös an.

„Mach sie schon auf!“, sagt sie angespannt.

„E-es geht nicht! Es geht nicht!“, beteuere ich.

„W-WAS?“, schreit sie und schubst mich zur Seite. Dann versucht sie auch wie wild die Klinke hinunterzudrücken, und scheitert ebenso wie ich daran.

Jessica stößt einen Schrei aus und beginnt an die Tür zu hauen.

 

 

„HILFE! WIR BRAUCHEN HILFE!“, kreischt sie.

Austin kommt zu uns gerannt und drängt uns von der Tür weg.

„Lasst das! Bitte!“, appelliert er an uns.

Ich spüre, wie mein Mittagessen sich auf den Weg nach oben begibt.

„Austin, was zum Teufel bist du?! Vorhin war dein Gesicht so finster; Das war nicht menschlich!“

Jessica stößt Austin von der Tür weg und beginnt wieder zu hämmern: „HIIIIILFEEEEEEEEEEEEEEEEE!!!!!!!“, schreit sie.

HÖR AUF!“, brüllt Austin und zerrt Jessica von der Tür weg. Dann stellt er sich direkt vor die Tür und wir sehen abermals die Finsternis in seinem Gesicht.

 

Er keucht wieder so heftig, wie vorhin, als wir seine dunkle Visage zum ersten Mal gesehen hatten. „Ihr seid in großer Gefahr. Wir sind alle in Gefahr. Ihr müsst mir helfen“, hören wir Austins Stimme in einem fast flehenden Ton. „Wenn nicht für mich, dann für eure Tochter Melinda.“

Jessica reißt die Augen auf und geht auf ihn los. „Nimm bloß nicht den Namen meiner Tochter in deinen schmutzigen Mund! Wenn du ihr etwas antust, reiße ich dir die Augen raus!“

Ich stehe hilflos da und sehe nur zu, wie Jessica ihn schubst und schlägt. Mehr als überfordert mit dieser Situation, fühle ich mich wie eingefroren. Die Finsternis in Austins Gesicht hat sich inzwischen wieder verzogen, doch er ist noch immer Jessicas Hieben ausgesetzt. Ich fange mich wieder und eile ihm zu Hilfe.

„Jessica, warte“, sage ich und ziehe sie zurück.

Austin hat einen Kratzer im Gesicht, aus dem Blut tropft. Er starrt angeschlagen auf den Boden.

 

„Du Mistkerl!“, schreit Jessica ihn an. „Wir hatten ein wundervolles Leben, bis du gekommen bist und uns in deine bescheuerten Machenschaften hineingezogen hast! Ich hasse dich!“ Sie will nach ihm treten, doch ich ziehe sie zurück. „Du ekelhafte Kreatur! Was bist du?!“ Jessica wirft ihm weiterhin jede Beleidigung, die ihr in den Sinn kommt, entgegen, während ich sie noch immer festhalte, damit sie ihn nicht umbringt.

Austins Blick ist immer noch gesenkt. Blut tropft weiterhin aus dem Kratzer in seinem Gesicht.

„Vor etwas über 100 Jahren…“, murmelt er, „war ich ein Diener des Barons von Dunkelbrunn.“

Jessica wirft weiterhin mit Beleidigungen um sich: „Du hässliche Kröte!“

Austin ignoriert sie und redet weiter: „Der Baron war ein mächtiger Hexenmeister. Magisch überaus begabt. Viele hundert Male mehr, als ich es jemals sein könnte.“

„Ich hoffe du stirbst ganz elendig, du Bastard!“

„In meiner Welt ist Magie nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Jedoch sind nicht alle Kreaturen magisch begabt. Die meisten Menschen besitzen keine solchen Fähigkeiten. Der Baron hingegen stammte aus einer überaus mächtigen Linie von Zauberern ab. Daher war es nur natürlich, dass auch er diese unglaublichen Kräfte besaß“, erzählt Austin mit immer noch gesenktem Blick. „Der Baron herrschte nicht nur über das Schloss Dunkelbrunn, sondern auch die dazugehörige Stadt, Durande. Wie bereits gesagt, diente ich viele Jahre meines Lebens im Schloss und so lernte ich den Baron auf einem persönlichen Level kennen. Er war wirklich ein guter Mensch, wie ihr es wohl ausdrücken würdet.“

„Pah! Mensch sagt er! Ihr seid Missgeburten!“, keift Jessica ihn an. Ich war Austins Geschichte aufmerksam gefolgt, obwohl ich gleichzeitig noch immer Jessica festhielt. Von ihren ständigen Unterbrechungen hatte ich jetzt aber entschieden genug. Ja, ich war auch nicht glücklich über diese Situation und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mir die Knie nicht schlottern; Aber Austin weiß über alles Bescheid. Er könnte unsere Karrieren sofort beenden, wenn er es wollte. Carlos ist buchstäblich keine 10 Meter entfernt im benachbarten Raum, aus dem noch immer Musik zu uns herüber dröhnt, und ich habe das Diebesgut in meiner Hosentasche.

„Jessica sei endlich still! Hören wir einfach mal zu!“, ermahne ich sie und lasse sie mit einem kleinen Schubser los. Sie gibt mir einen angewiderten Blick und schaut dann Austin hasserfüllt an, geht aber zumindest nicht mehr auf ihn los. Austins Blick erhebt sich zum ersten Mal wieder.

 

„Obwohl der Baron ein guter Mensch war…“, fährt Austin fort, „gab es einige Leute, die ihn verachteten… oder beneideten. Der Baron musste stets auf der Hut sein, seine Feinde lauerten überall. Vielleicht war es diese Paranoia, die schlussendlich zu seinem grausamen Ende geführt hat“, flüstert Austin und senkt seinen Blick mit einem lauten Seufzen wieder.

Diese Geschichte klingt zwar wirklich wie erfunden, aber mir fällt auf, dass wir soeben eine neue Emotion freigeschaltet hatten: Trauer. Austin schien wirklich untröstlich zu sein. Was auch immer passiert ist, es scheint ihn noch immer mitzunehmen. Vor allem, wenn wir ihm glauben können, und das ganze schon vor 100 Jahren passiert sein soll… 100 Jahre? Austin sieht nicht gerade wie eine Person aus, die älter als 100 ist. Wie kann ein Mensch überhaupt so lange leben? Ist das auch Magie? Meine Gedanken schießen quer durcheinander. Ich weiß gar nicht, was ich Austin zuerst fragen will. Bevor ich die Chance habe, ergreift Austin erneut das Wort.

„Ich muss mich bei euch entschuldigen. Ich habe alles missverstanden…“, seufzt er. „Es ist so schwierig die Situation zu erklären.“

Ich kann verstehen, dass es wahrscheinlich nicht einfach ist, 100 Jahre in Worten auszudrücken.

„Ich will nichts von dir wissen“, knallt Jessica ihre Worte in sein Gesicht, „Weder du, noch dein Baron, noch sonst irgendetwas oder -jemand aus deinem lächerlichen Märchen interessiert mich. Du wirst deinen ‚Zauber‘ sofort rückgängig machen und uns gehen lassen.“

Ich ignoriere Jessicas Hassrede und wende mich an Austin.

„Kannst du uns noch erzählen, warum du glaubst, dass wir in Gefahr schweben würden?“

Austins Gesicht ist von Verzweiflung gezeichnet. Er nickt schnell.

„J-ja“, stammelt er. „Der Seelenstein war doch vergraben, oder? Ihr habt ihn auf einer Ausgrabung ans Tageslicht geholt.“

Ich bestätige ihm das mit einem Nicken und einem kurzen „Ja“.

„Ich habe mich so lange gewundert, was mit diesem Stein passiert ist. Als ihr ihn geborgen habt, konnte ich ihn plötzlich deutlich spüren.“

„Du konntest ihn ‚spüren‘?“, frage ich.

Austin nickt. „Ja. Nach all den Jahren an der Seite von Meister Dunkelbrunn ist seine Magie wie ein Ruf, der mich über große Distanzen erreichen kann. Da mein Meister in diesem Seelenstein ruht, und da seine Magie sehr stark ist, trieft dieser Seelenstein förmlich von seiner Magie. Ich konnte den Ruf des Steins allerdings lange Zeit nicht vernehmen, weil er so tief unter der Erde vergraben war.“

Ich nicke verständnisvoll. „Möchtest du den Stein denn wirklich nicht haben?“

Austin reißt die Augen auf. „Nein! Du hast wohl noch nicht verstanden.“

 

Ich starre ihn stumm an. Tatsächlich verstehe ich es nicht. Wieso würde er diesen Stein nicht haben wollen, wenn sein geliebter Baron darin steckt?

Austin sieht mich mit einem warmen Lächeln an. „Der Seelenstein saugt Magie wie ein Schwamm auf. Alles Magische, das diesen Stein berührt, wird wie von einem schwarzen Loch eingesaugt.“

Ich hebe schockiert die Augenbrauen. Das würde ja bedeuten, dass ich im Fundstückeraum versucht hätte, ihn umzubringen. Das war nun wirklich nicht meine Absicht!

„Austin! Es tut mir so leid, dass ich dir den Seelenstein so unter die Nase gehalten habe! Ich wusste nicht, wie gefährlich er für dich ist! Entschuldige!“, bitte ich um Austins Vergebung.

Er winkt mit einem beschwichtigendem Lächeln im Gesicht ab: „Schon gut. Ich weiß doch, dass du es nicht wusstest.“

Jessica schaut uns mit einem Ekel im Gesicht an. „Wie süß, seid ihr jetzt Freunde? Ihr widert mich beide an.“ Dann fängt sie an mich nachzuahmen: „Oh Austin, mein Schatz, ich wollte das gar nicht!“

Dann macht sie ihn nach: „Ach Chris, für dich würde ich alles tun, ist doch nicht schlimm!“

Wir schauen sie stumm an. Dann muss ich lachen.

 

Sie schlägt mir mit der Faust auf die Schulter: „Halt die Klappe! Und du da, sperr endlich diese Tür auf! Ich habe genug von deinem dummen Märchen!“

„Moment noch“, sage ich, „du hast uns noch nicht erzählt, was diese Gefahr ist, von der du sprichst. Der Stein ist doch scheinbar nur für magische Wesen gefährlich“, bohre ich nach.

Austin schüttelt den Kopf. „Leider nicht. Es ist wahr, dass die größte Gefahr für magiebegabte Menschen und Kreaturen ausgeht… Aber ich muss dich daran erinnern, dass dieser Seelenstein die ungeheuerlichen Kräfte des Barons von Dunkelbrunn enthält. Wenn die falsche Person ihn in die Finger kriegt, schweben wir alle in großer Gefahr“, erklärt Austin eindringlich.

Ich schweige einen Moment, bevor ich antworte: „Ist denn der Baron wirklich SO stark gewesen? Wie ist er in diesen Seelenstein geraten? Und wer hat diesen Seelenstein überhaupt entworfen?“, löchere ich Austin mit Fragen.

„Leider kenne ich nicht die Antwort auf alle Fragen. Sonst wäre ich wohl selbst nicht hier“, murmelt Austin. „Ich versuche die Puzzleteile, die mir fehlen, zu finden.“

Inzwischen kommt keine Musik mehr aus dem Foyer. Die Einführungsrede wird wohl schon begonnen haben.

„Du musst uns ein anderes Mal noch mehr erzählen. Es scheint mir, dass es noch vieles gibt, dass du uns noch nicht gesagt hast“, sage ich. "Auch von dir wissen wir kaum etwas."

Austin nickt. „Da hast du recht. Ihr werdet alles erfahren.“

Dann sieht er Jessica in die Augen.

„Ich weiß du glaubst mir nicht. Und du magst mich nicht. Ich werde mein Bestes tun, auch dein Vertrauen zu gewinnen. Ihr könnt euch auf mich verlassen“, sagt Austin mit einer Entschlossenheit und einem emotionalen Ton, den ich von ihm noch nie gehört habe. Scheinbar ist seine Roboterstimme nun für immer verloren. Endlich.

Jessica schnaubt und dreht sich demonstrativ von ihm weg. „Mach endlich die Tür auf“, knurrt sie nur.

Austin tut wie ihm geheißen und wir drei marschieren ins Foyer, um uns die Rede anzuhören.

 

Während wir lauschen, werfe ich immer wieder Blicke zu Austin rüber. Seine Geschichte ist so unwahrscheinlich, so verrückt, so fern von allem, was man für möglich halten würde. Und doch glaube ich ihm jetzt. Nachdem ich erlebt habe, wie er gesprochen hat, wie sich die Trauer auf seinem Gesicht breit gemacht hat und wie wehmütig seine Blicke waren... Ich kann nicht anders, als ihm zu glauben.

 

Ich frage mich nur, worauf wir uns hier eingelassen haben. Und was uns noch bevorsteht…